Rede von Jürgen Trittin NATO-Gipfel in Vilnius

Foto von Jürgen Trittin MdB
06.07.2023

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu Anfang Jens Stoltenberg gratulieren. Seine Vertragsverlängerung als Generalsekretär der NATO begrüße ich ausdrücklich. Das sage ich als jemand, der sich oft mit ihm gestritten hat, aber das macht gerade die Qualität des Generalsekretärs aus: Er ist ein streitbarer Geist, aber er hat es geschafft, in sehr schwierigen Zeiten – heute – 31 NATO-Mitgliedstaaten immer wieder zusammenzuführen. Das ist es, was wir brauchen.

Die NATO zusammenzuhalten, ist die Voraussetzung dafür, dass wir der großen Herausforderung, der wir uns heute gegenübersehen, überhaupt gerecht werden können. Das ist der Grund, warum wir die Bündnisverteidigung mit mehr Geld stärken. Das ist der Grund, warum wir für die Sicherheit im Baltikum unsere Präsenz in der Ostsee erhöhen und verstetigen. Und selbstverständlich bedarf es dafür auch der logistischen Voraussetzungen an dieser Stelle. Damit räumen wir in der Tat mit den Versäumnissen von 16 Jahren Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsministern von der Union auf. Ich will das hier nicht lange ausführen. Aber wenn ausgerechnet diejenigen, die für die Beschaffungsdefizite verantwortlich sind, uns nun dafür kritisieren, die wir 100 Milliarden Euro in die Hand nehmen,

(Zuruf des Abg. Peter Beyer [CDU/CSU])

um diese Defizite zu beseitigen; wenn ausgerechnet diejenigen, die uns in eine schreckliche Abhängigkeit von russischem Erdgas gebracht haben,

(Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Die sitzen jetzt im Kanzleramt! – Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Immer diese scharfen Angriffe gegen die SPD, das finde ich jetzt auch übertrieben!)

uns dafür kritisieren, dass wir hier auf beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien setzen, dann muss ich sagen: Sie sollten zur Kenntnis nehmen: Wir räumen gerade Ihren Mist auf, und das in einer schwierigen Situation.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP])

Es ist eine schwierige Situation, in der wir eine Gratwanderung zu machen haben, nämlich auf der einen Seite sicherzustellen, dass die Ukraine nicht überrannt wird, und auf der anderen Seite auch dafür zu sorgen, dass die NATO nicht in eine direkte militärische Auseinandersetzung mit der Atommacht Russland verwickelt wird. Das ist die Schwierigkeit, vor der wir stehen. Das ist der Grund, warum wir als NATO-Mitgliedstaaten die Ukraine militärisch unterstützen. Das ist der Grund, warum Deutschland heute nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine ist. Ich kann Ihnen die Zahlen nennen, und dann schauen Sie sich noch die Dinge an, die wir über die European Peace Facility mitfinanziert haben.

(Zuruf von der AfD: 12 Milliarden!)

Wir werden auf dem NATO-Gipfel aber einen weiteren Schritt gehen. Wir werden mit dem NATO-Ukraine-Rat einen Schritt hin zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine machen. Und klar – da würde ich Herrn Stegner ja durchaus zustimmen –: Solange der Krieg in der Ukraine dauert, werden wir mit dieser Unterstützung auch nicht nachlassen. Ich finde es ganz erstaunlich, dass gerade Präsident Selenskyj gesagt hat: Solange dieser Krieg währt, wird es nichts werden mit dem NATO-Beitritt.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Das hat ja keiner gefordert!)

Aber das macht es für uns doch nicht einfacher.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Nee! Das sagt er ja auch gar nicht!)

Das erfordert doch von uns, unterhalb dieser Frage die gleiche Sicherheit für die Ukraine herzustellen, die sie braucht, damit sie nicht überrannt wird.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Ja, und wie soll das konkret aussehen?)

Darüber kann in Vilnius gesprochen werden. Das ist das Signal, was von Vilnius ausgehen wird.

Die NATO ist zurzeit in ihrer Kernkompetenz gefordert. Die Kernkompetenz der NATO ist Bündnis- und Landesverteidigung. Das will ich auch mal mit aller Deutlichkeit nach links und rechts hier sagen: Bündnisverteidigung richtet sich nicht gegen andere. Bündnisverteidigung schafft Sicherheit auf der Basis des Völkerrechts. Und diese Sicherheit gibt es nicht im Alleingang. Es gibt keine nationale Energiesouveränität, und es gibt heute in der globalisierten multipolaren Welt auch keine nationale militärische Sicherheit. Das können wir nicht alleine.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Wir brauchen Alliierte. Dafür brauchen wir die NATO. Dafür brauchen wir die Europäische Union. Und wer die Rückkehr des Krieges nicht will, der muss militärische Sicherheit multilateralisieren. Die NATO ist nichts anderes als das, was wir aus unserer eigenen Geschichte verbrecherischer nationalistischer Alleingänge gelernt haben: Sicherheit zu multilateralisieren.

Das ist auch die Antwort auf einen aggressiven und verbrecherischen Nationalismus. Putin hat ja bekanntermaßen das Wachsen der NATO in Osteuropa als Vorwand umgelogen für seinen Überfall. Er hat aber – das muss man an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen – damit das Gegenteil erreicht. Schweden und Finnland haben sich von ihrem Konzept einer Sicherheit durch Neutralität verabschiedet und sind Bestandteil dieses multilateralen Sicherheitsbündnisses geworden. Putins verbrecherischer Krieg hat also die NATO größer und – ich sage auch – stärker gemacht.

Deswegen ist meine größte Erwartung an diesen Gipfel in Vilnius, dass er es schafft, endlich die autokratisch motivierte Blockade des NATO-Beitritts Schwedens durch die Türkei, durch Erdogan, zu überwinden. Dies ist nicht nur im Interesse der Sicherheit Schwedens. Es ist auch und gerade im Interesse der Sicherheit von uns allen, der Sicherheit der NATO. Jens Stoltenberg hat dann ein zusätzliches Problem: Er muss nicht mehr 31, sondern 32 Mitgliedstaaten zusammenhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Herr Kollege Trittin. – Das Wort hat nunmehr die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)