Rede von Annalena Baerbock Organspende

28.11.2018

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal herzlichen Dank für diese Debatte; denn sie macht deutlich, dass wir in angespannten Zeiten sehr ernsthaft als Deutscher Bundestag über schwierige ethische Fragen reden – und das in einer Orientierungsdebatte, wo wirklich Argumente gegeneinander abgewogen werden.

Wir haben die Situation – das wurde gerade angesprochen –, dass Menschen wirklich in tiefster Sorge um ihre Mutter, ihr Kind oder ihre Verwandten auf Organspenden warten – das sind derzeit etwa 12 000 –, im letzten Jahr aber nur 797 Spenden zur Verfügung standen. Das ist eine Situation, in der Politik handeln muss, weil es dringenden Handlungsbedarf gibt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das Gute in dieser Situation ist, dass 84 Prozent unserer Bevölkerung sagen: Ja, wir möchten spenden. – Das haben wir bei ganz, ganz wenigen Themen. Zugleich haben aber nur 39 Prozent diese Entscheidung bewusst getroffen. Um diese Diskrepanz geht es, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir müssen als Gesetzgeber eine Lösung finden, um diese Diskrepanz zu schließen, und zwar auf Grundlage dessen, dass Menschen tagtäglich sterben, wir aber auch eine historische und ethische Verantwortung mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht eines jeden einzelnen haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Ich finde es sehr richtig, dass das Gesundheitsministerium im Oktober einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, durch den erst einmal die Zusammenarbeit und vor allen Dingen die Situation in den Krankenhäusern mit Blick auf die Organspende verbessert werden sollen. Das ist essenziell für jegliche weitere gesetzliche Änderung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Allerdings wird auch dieses Gesetz die Lücke zwischen den 39 Prozent, die einen Spenderausweis haben, und den 84 Prozent, die eigentlich Spenderinnen und Spender sein wollen, nicht schließen. Deswegen gibt es weiteren Handlungsbedarf, und zwar jetzt, weil eben jeden Tag Menschen sterben.

Ich habe eine große Sorge in Bezug auf die Widerspruchslösung, und zwar, dass die Spendebereitschaft der 84 Prozent dadurch zerstört wird, dass man Menschen jetzt zwingt, aktiv Nein zu sagen.

(Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Richtig!)

Es ist ja nicht so, dass alle Nein sagen können. Manche Menschen sind dazu nicht in der Lage. Das ist nicht die breite Masse unserer Bevölkerung; aber es gibt Menschen, die eben dazu nicht in der Lage sind. Außerdem haben wir in allen anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Datenschutz-Grundverordnung, als Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler dieses Landes durchgesetzt, dass man aktiv zustimmen und nicht widersprechen muss. Das bei so einer tiefethischen Frage anders zu machen, halte ich – das gilt auch für viele andere, die das hier schon angesprochen haben – für falsch.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Wir haben einen eigenen Vorschlag gemacht – Katja Kipping, Matthias Miersch und etliche Kolleginnen und Kollegen von der Union haben es angesprochen –; denn wir müssen sagen, wie es gehen soll, wenn wir die Widerspruchslösung für schwierig halten.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau! Stimmt!)

Wir haben uns da an etwas orientiert, was ein ehemaliger Nobelpreisträger vorgeschlagen hat, und zwar, zu sagen: Wir müssen verankern, dass es auch eine Frage von Solidarität in der Gesellschaft ist. Wenn jeder Einzelne von uns erwartet, dass er im Notfall ein Organ bekommt, dann können wir erwarten, dass man sich entscheiden muss, ob man selber Spenderin oder Spender ist; das müssen wir deutlich machen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wir schlagen deswegen eine verbindlichere Lösung vor als die, die von Frau Maag hier angesprochen wurde. Wir sind ja noch in der Diskussion, wie verbindlich es sein soll. Wir glauben aber, es muss eine verbindliche Abfrage geben.

Damit wir alle Menschen in unserem Land erreichen, sollte diese Abfrage stattfinden, wenn diese einen Personalausweis beantragen. Man könnte das auch beim Arzt machen. Aber viele Menschen gehen gar nicht zum Arzt. Es gibt Hundertausende, die gar nicht krankenversichert sind. – Ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. – Aus unserer Sicht muss das verbindlich sein. Deswegen wollen wir das mit der Personalausweisbeantragung verbinden. Wenn man seinen Personalausweis beantragt, kriegt man alle Informationen und hat dann Zeit. Wenn man den Ausweis abholt, muss man sich entscheiden, und zwar geheim; elektronisch ist das alles möglich. Dann kann man auch sagen, man möchte nicht; das ist der große Unterschied zum Widerspruch. Man kann auch sagen: Ich kann mich heute nicht entscheiden. Ich komme noch einmal wieder. – Das Ganze muss in einem zentralen Melderegister gemeldet werden, so wie das bei einer Knochenmarkspende üblich ist.

(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich glaube, so schließen wir die Diskrepanz zwischen den 84 Prozent und den 39 Prozent. Ich freue mich auf die weitere Debatte.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)