Rede von Katja Keul Organspende

28.11.2018

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bislang gibt es in dieser Debatte zumindest einen Konsens, und zwar einen Konsens darüber, dass postmortale Organspenden wünschenswert sind, um das Leben der Empfänger zu retten. Ich finde es wichtig, das festzustellen, da auch diese Position nicht selbstverständlich oder denklogisch zwingend wäre. Konsens ist außerdem, dass es strukturelle Defizite in den Krankenhäusern gibt, die in jedem Falle beseitigt werden müssen, um Organspenden zu fördern.

Die meisten von uns gehen außerdem davon aus, dass die tatsächliche Spendenbereitschaft grundsätzlich höher ist als die dokumentierte Spendenbereitschaft. Um diese Differenz zu verringern, wollen nun die Vertreter der Widerspruchslösung das ausdrückliche Einverständnis durch eine gesetzliche Fiktion ersetzen.

Ich möchte mich darauf konzentrieren, aufzuzeigen, warum die Widerspruchslösung nicht mit unserer Verfassung, namentlich mit Artikel 1 Grundgesetz, in Einklang zu bringen ist und deswegen ausscheiden muss.

(Beifall der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Nach der Widerspruchslösung muss jemand eine Organentnahme nach Eintreten des Hirntodes dulden, wenn er zu Lebzeiten nicht widersprochen hat. Der Hirntod an sich beendet aber nicht automatisch jeden Grundrechtsschutz, sondern verändert ihn lediglich in seinem Gehalt. Das über den Tod hinaus wirkende Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen bewirkt, dass lebzeitige Entscheidungen und Verfügungen über den eigenen Körper und seine Organe auch nach dem Tode zu achten sind. Durch den Hirntod wird der Mensch nicht zu einem bloßen Objekt. Das ist und bleibt Kern der Menschenwürde des Artikels 1 Grundgesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Die Entnahme der Organe ist daher ein schwerwiegender Eingriff in höchstpersönliche Rechte, der auch nach Eintritt des Hirntods gerechtfertigt werden muss. Eine Rechtfertigung läge in jedem Falle dann vor, wenn es sogar eine Pflicht zur Duldung der Organentnahme gäbe, also eine Art Solidaritätspflicht nach dem Motto: Da jeder potenzieller Empfänger sein kann, muss man auch immer potenzieller Spender sein.

Dabei wird zunächst einmal verkannt, dass gerade nicht jeder auch zwangsläufig Empfänger fremder Organe sein möchte. Auch dafür ist mindestens der mutmaßliche Wille der Betroffenen zu ermitteln. Außerdem steht einer solchen Pflicht gerade Artikel 1 Grundgesetz entgegen, der uns untersagt, einen Menschen zum Objekt, das heißt zu einem Mittel zum Zweck, zu machen, und zwar auch dann, wenn der Zweck die Rettung eines anderen Menschenlebens sein soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Eine Pflicht zur Organspende ungeachtet der ethischen, religiösen oder sonstigen Anschauungen eines Menschen scheidet daher aus.

Es wird auch nicht besser, wenn mit einer gesetzlichen Vermutung aus einem Schweigen eine Zustimmung gemacht werden soll. Nichts spricht dafür, dass Menschen, die ihren Willen nicht dokumentiert haben, eine bewusste Entscheidung getroffen haben. Im Gegenteil: Die Zahlen sprechen dafür, dass sie sich mit dem Thema noch gar nicht befasst haben. Ihnen trotzdem eine Spendenbereitschaft zu unterstellen, wäre eine Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts und ihrer postmortalen Würde.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Für die Unverhältnismäßigkeit eines solch schwerwiegenden Eingriffs ohne Zustimmung des Betroffenen oder der Angehörigen spricht auch die Tatsache, dass es andere, weniger eingriffsintensive Maßnahmen gibt, um das gewünschte Ziel zu erreichen.

Beheben wir zunächst die bekannten strukturellen Defizite und erhöhen dadurch das Vertrauen der Menschen in die mit der Organspende beauftragten Institutionen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Und dann lassen Sie uns darüber sprechen, wie wir künftig die Spendenbereitschaft in regelmäßigen Abständen bei geeigneter Gelegenheit abfragen. Hier sind verschiedene Modelle denkbar: vom Hausarztbesuch bis zur Beantragung eines Personalausweises. Allerdings sollten wir bedenken, dass staatlicher Zwang auch kontraproduktiv wirken kann

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

und wir dann eine negative Entscheidung möglicherweise für lange Zeit festgeschrieben haben.

Stellen wir also sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger gut informiert werden. Trauen wir ihnen Verantwortungsbewusstsein zu, und achten wir vor allem ihr Selbstbestimmungsrecht im Umgang mit ihrem Tod.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])