Rede von Nina Stahr Orientierungsdebatte zur Impfpflicht

26.01.2022

Nina Stahr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beim Thema Impfpflicht spielt die Frage um die Einschränkung der Grundrechte eine große Rolle. Ist es vertretbar, ist es notwendig, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung durch eine Impfpflicht einzuschränken? Doch mit dieser Fragestellung schauen wir nur auf die Rechte derer, die bisher noch nicht geimpft sind und die nun zu einer Impfung verpflichtet werden sollen.

Deshalb erlauben Sie mir, den Blick zu weiten und folgende Frage zu stellen: Die Grundrechte welcher Menschen sind denn seit knapp zwei Jahren permanent eingeschränkt? Menschen mit Vorerkrankungen, die sich nicht impfen lassen können oder aber, was ja viel häufiger der Fall ist, die trotz einer Impfung ein hohes Risiko eines schweren bis sogar tödlichen Krankheitsverlaufs haben. Diese Menschen sind zum Teil seit zwei Jahren isoliert – und damit massiv in ihren Grundrechten eingeschränkt.

Und ich möchte auf die Familien schauen, die Familien, in denen kleine Kinder leben, die noch nicht geimpft werden können: Gerade angesichts des Risikos von Long Covid und PIMS ist es nur allzu gut nachvollziehbar, dass Eltern ihre Kinder schützen wollen. Aber sie werden zerrieben zwischen Erwerbsarbeit und Sorgearbeit. Und auch die Familien, deren Kinder schon geimpft sind, leiden unter der derzeitigen Situation. Es ist richtig, dass wir die Schulen und Kitas offenhalten. Doch de facto sind viele Kinder derzeit immer wieder zu Hause, weil die Lehrkräfte und Erzieher/-innen krank oder in Quarantäne sind oder weil die Kinder selbst in Quarantäne sind. Das Recht auf Bildung ist hier massiv eingeschränkt.

Und die Eltern zerreißen sich zwischen Homeschooling und Erwerbsarbeit, bis sie nicht mehr können. Und dann reduzieren die Eltern, die es sich leisten können, ihre Erwerbsarbeit. Meist bleiben die Frauen dann mehr zu Hause, und was das für die Erwerbsbiografie der Frauen und damit für ihre Rente bedeutet, muss ich wohl nicht erklären. Oder aber die Eltern können sich das nicht leisten und gehen dann erst recht auf dem Zahnfleisch.

Die Zunahme von häuslicher Gewalt war im Lockdown extrem; aber auch in der derzeitigen Situation sind viele Eltern überfordert, und Gewalt nimmt zu.

Wir diskutieren, ob wir durch eine Impfpflicht Grundrechte einschränken sollen. Aber es ist doch so: Die Grundrechte von Kindern und Eltern, die Grundrechte von Menschen mit bestimmten Erkrankungen sind seit zwei Jahren massiv eingeschränkt.

Diese Situation bekommen wir nur entschärft, wenn wir die Inzidenzen insgesamt runterbekommen. Und nein, damit spreche ich nicht für einen Lockdown, sondern dafür, dass alle Erwachsenen endlich solidarisch sind mit Kindern und Jugendlichen, mit Familien und mit Menschen mit Vorerkrankungen.

Grundrechte werden durch die Impfpflicht wesentlich weniger eingeschränkt als durch keine Impfpflicht – sie ist definitiv das mildere Mittel in der Abwägung. Im Sinne der Inklusion, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Teilhabe an unserer Gesellschaft haben, im Sinne des Rechts auf Bildung und auf gewaltfreie Erziehung müssen wir mit Blick auf den Herbst jetzt alles tun, um nicht erneut so hohe Inzidenzen zu haben. Es geht mir natürlich auch um eine Entlastung des Gesundheitssystems – aber es geht mir vor allem darum, dass im nächsten Herbst alle Menschen in unserem Land wieder ihre Grundrechte wahrnehmen können. Und ich bin der festen Überzeugung, dass wir das nur erreichen, wenn wir eine deutlich höhere Impfquote als derzeit haben. Und deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass eine Impfpflicht für alle ab 18 das mildere Mittel im Vergleich zu den Freiheitseinschränkungen für Familien und Menschen mit Vorerkrankungen ist.