Rede von Prof. Dr. Armin Grau Orientierungsdebatte zur Impfpflicht

26.01.2022

Dr. Armin Grau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rund 9 Millionen Menschen sind bislang in Deutschland an Covid‑19 erkrankt. Fast 117 000 Todesfälle sind im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu beklagen, und nach gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis sind die allermeisten dieser Menschen nicht nur mit, sondern an Covid-19 gestorben. Welch ungeheures Leid ist durch diese Pandemie entstanden!

Gleichzeitig haben wir das große historische Glück, dass schon ein Jahr nach Beginn der Pandemie hochwirksame und nebenwirkungsarme Impfstoffe zur Verfügung standen. Welche anderen Medikamente in der Geschichte wurden so rasch milliardenfach eingesetzt und so gut untersucht? Nach allen zur Verfügung stehenden Daten verursachen die heute bei uns eingesetzten Impfstoffe nur sehr selten schwerere Nebenwirkungen. Sie sind sicher.

Und sie wirken nach einer dritten Impfung, einer Auffrischungsimpfung, auch gegen die aktuelle Omikron-Variante. Omikron ist, zum jetzigen Kenntnisstand, eine mildere, aber mitnichten ungefährliche Variante. Sie wird leider zeitnah zu einem Anstieg der Intensivbehandlungen führen. Dieser Anstieg beginnt bereits jetzt und er wird vor allem, aber nicht nur, Ältere und Vorerkrankte betreffen.

Eine Infektion mit Omikron, einer sogenannten partiellen Immunfluchtvariante, ersetzt nicht die Impfung, sie schafft keinen ausreichenden Schutz vor anderen Varianten. Jetzt Schutzmaßnahmen zu reduzieren, würde eine ungehemmte Ausbreitung, viele zusätzliche Schwerkranke und Tode bedeuten – eine undenkbare Alternative.

Leider aber ist die Impfquote in Deutschland gerade auch im internationalen Vergleich viel zu niedrig. Rund 12 Prozent der über Sechzigjährigen und fast 19 Prozent der 18- bis 59-Jährigen sind nicht grundimmunisiert, haben also nicht wenigstens zwei Impfungen erhalten. Die Impfung schützt das einzelne Individuum, sie schützt das Gesundheitssystem vor Überlastung und damit auch Menschen mit anderen Krankheiten, die sonst schlechter behandelt werden könnten. Sie vermindert auch die Weitergabe des Virus und damit die Ansteckung anderer, vor allem vulnerabler Gruppen. Daher ist es so wichtig, dass alle Erwachsenen geimpft sind, auch die Altersgruppen, die aktuell nicht oft schwer erkranken.

Bedauerlicherweise ist eine ausreichend hohe Impfrate angesichts der stagnierenden Impfzahlen nur durch eine allgemeine Impfpflicht erreichbar. Diese Maßnahme richtet sich auf eine zu erwartende neue Welle im nächsten Herbst und Winter mit einer möglichen neuen Variante, die wir heute wahrscheinlich noch nicht kennen und von der wir auch nicht wissen, welche Altersgruppen sie bevorzugt und wie schwer befällt.

Die Impfpflicht ist zweifelsfrei ein gravierender Eingriff in unsere Persönlichkeitsrechte, aber die aktuellen Einschränkungen unserer Freiheit sind das auch. Keine andere Maßnahme schafft in dieser schwierigen Situation mehr Freiheiten; die Freiheitsbalance spricht klar für mehr Impfungen und damit für die Impfpflicht. Die Impfpflicht muss einhergehen mit einer kompetenten, individuellen Impfberatung, sie muss flankiert sein von einer wirksamen Kampagne und vielfältige, auch aufsuchende Impfangebote beinhalten. Sanktionen sollen angemessen sein und nicht im Vordergrund stehen. Wichtig ist auch eine valide und digitale Erfassung der Impfungen und der Hospitalisierungsrate.

Nach zwei Jahren Pandemie müssen jetzt auch psychosoziale Angebote zügig ausgebaut werden, um unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Bewältigung dieser belastenden Situation zu erleichtern.