Rede von Markus Kurth Ostrenten

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17.10.2019

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Höhn, das mögen viele von den verschiedenen Gruppen in der DDR, die in einem sogenannten Zusatzversorgungssystem waren, subjektiv so empfinden und wahrnehmen; Rechtsansprüche in dem Sinne, wie Sie suggerieren, bestehen gleichwohl nicht, und das liegt an der Art und Weise, wie die Vereinigung vollzogen worden ist.

(Beifall des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben wir nicht suggeriert! Quod erat demonstrandum! – Weitere Zurufe von der LINKEN)

Es war ein Beitritt – das bedauern wir sehr; wir wollten eine neue Verfassung –; das heißt, die DDR hat aufgehört zu existieren und mit ihr sämtliche Rentengesetze und andere Gesetze.

(Kersten Steinke [DIE LINKE]: Und das findet ihr richtig, oder was?)

Das heißt aber natürlich nicht – das will ich auch mal klarstellen, damit das niemand in den falschen Hals kriegt –, dass wir bei bestimmten Gruppen innerhalb dieser Zusatzversorgungssysteme nicht trotzdem eine politische Entscheidung treffen können und auch sollten, nämlich dort, wo es bestimmte Härten gibt. Meine Fraktion hat ebenfalls Anträge gestellt, zum Beispiel im Falle der Balletttänzerinnen, der besonders schlimm betroffenen Arbeiter in der Braunkohleveredelung, der Krankenschwestern, der in der DDR geschiedenen Frauen und anderer Gruppen, also dort, wo sozusagen politisch begründbare Ansprüche sind. – Das nur mal zur systematischen Klarstellung,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

weil Sie immer wieder den Eindruck zu erwecken versuchen, es seien Menschen betrogen worden oder, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, gedemütigt worden. Das ist definitiv falsch.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Unsinn! Das haben wir auch nie gesagt!)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Herr Kurth, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Lötzsch?

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Aber gern. Bitte schön.

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage oder Bemerkung zulassen. – Wenn ich mich recht entsinne, war der Beitritt nach Artikel 23 etwas, was viele scharf kritisiert haben, und zwar genau aus den Gründen, die Sie gerade beschrieben haben, nämlich dass für viele Menschen nicht die Rechte gewährleistet wurden. Helfen Sie mir doch mal auf die Sprünge! Wenn ich mich recht entsinne, waren große Teile Ihrer politischen Formation, zumindest damals im Gebiet der DDR, dafür, dass kein Beitritt erfolgt – es gab die Demonstrationen „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ –, sondern dass eine Zusammenführung nach Artikel 146 der gerechtere Weg ist. Darum frage ich Sie: Warum verteidigen Sie jetzt den Beitritt nach Artikel 23, wenn es doch eine viel bessere und gerechtere Lösung gegeben hätte?

(Beifall bei der LINKEN)

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich glaube, Frau Lötzsch, da gibt es insofern ein gewisses Missverständnis, als ich den Beitritt nach Artikel 23 GG nicht verteidigt, sondern nur erklärt habe, dass er sich so vollzogen hat, mit ebendieser weitreichenden Folge, dass das DDR-Rentenrecht dadurch quasi ausradiert worden ist,

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja das Problem!)

wie viele andere rechtliche Vorschriften im Übrigen auch.

Meine Partei – da erinnere ich mich noch ganz genau –, die damals westdeutschen Grünen, haben sich für eine neue Verfassung entschieden. Ich glaube, es ging um Artikel 146 des Grundgesetzes, oder, Frau Präsidentin?

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: „146“ stimmt, Markus!)

– Artikel 146 stimmt.

Auch Bündnis 90, der andere Teil unserer Partei, mit dem wir ja zusammengewachsen sind, wollte eine neue Verfassung. Der Beitritt nach Artikel 23 hat gerade auch Bündnis 90, die ostdeutschen Bündnis 90/Die Grünen, quasi untergepflügt. Die ganze Bürgerrechtsbewegung ist mit ihren Anliegen gar nicht wirklich zum Zuge gekommen, weil auf den Montagsdemos im Frühjahr plötzlich der Slogan laut wurde: Kommt die D-Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr. – Daran kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich habe nämlich damals in Berlin gewohnt und mich in Ost wie in West bewegt. Den ganzen Prozess habe ich aus nächster Nähe erfahren. Ich habe auch bei vielen dafür geworben, dass man sich mit dem Ganzen Zeit lässt, dass man die Wirtschafts- und Währungsunion nicht übers Knie bricht, nicht eins zu eins. Auch die Treuhand habe ich von Anfang an absolut kritisch gesehen. Es hätte natürlich vieles anders, besser laufen können.

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Jetzt kommen wir wieder zur Rente zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme wieder zur Rente. Mir war nur wichtig, das zu erklären und die historische Wahrheit noch mal geradezuziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Da wir gerade bei der Vergangenheit sind: Herr Kollege Vogel hat ganz zu Recht den ökonomischen Ausgangspunkt benannt. Da möchte ich Christa Luft zitieren. Das ist die letzte Wirtschaftsministerin der SED-geführten Regierung Modrow gewesen.

(Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Ach was!)

Sie hat letztes Jahr ein sehr interessantes Interview gegeben und gesagt, dass die Überzentralisierung elend war. Sie spricht von Umweltsünden, Ersatzteilproblemen, nicht funktionierendem Materialfluss. Sie sagt:

Dann kam ʼ72 diese elendigliche Enteignung der restlichen kleinen und mittelständischen privaten Unternehmen. Das hat viel Produktivität, Flexibilität und Motivation gekostet. … So gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die dazu führten, dass die Produktivität immer weiter abfiel.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb erhält die geschiedene Frau weniger Rente? Das versteh ich nicht!)

Das hat Christa Luft gesagt. Damit wird auch klar, dass wir es mit einem langgreifenden Strukturwandelprozess zu tun haben, so wie in Pirmasens, wie im Saarland, wie im Ruhrgebiet, wie in Bremerhaven. Das erklärt die Lohnungleichheit. Sie war zu Anfang so krass, dass die Höherwertung durchaus berechtigt war. Aber jetzt sind wir 30 Jahre weiter. Innerhalb der Länder der früheren DDR gibt es eine sehr differenzierte Landschaft. Wer das übrigens auch verstanden hat, ist Bodo Ramelow, der ja eine tolle rot-rot-grüne Regierung anführt.

(Widerspruch bei der FDP)

Er sagt in einem Interview vor ein paar Wochen:

Ungleiche Lebensverhältnisse sind im Übrigen kein reines Ost-West-Problem, sondern ein Problem benachteiligter Regionen insgesamt. Die gibt es im Osten und im Westen.

Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Kersten Steinke [DIE LINKE]: Deshalb kriegt die geschiedene Frau ihre Ansprüche nicht? So ein Quatsch!)

Deswegen ist, wenn man die Rentenwerte in Ost und West angeglichen hat, die Höherwertung nicht mehr gerechtfertigt.

Ich finde, er gibt uns in dem Interview noch einen ganz interessanten Satz mit. Er sagt nämlich:

… Förderung darf keine Subventionierung des Abstands sein, sondern muss eine Investition in den Aufholprozess sein.

Das heißt, es ist eine aktive, vorwärtsgerichtete Perspektive. Ihre Perspektive ist demgegenüber rückwärtsgerichtet.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch dicker?)

Sie versuchen mit einer Demütigungsrhetorik, die überhaupt nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, Leute aufzuwiegeln; anders kann man das kaum sehen.

(Kersten Steinke [DIE LINKE]: Wir müssen nicht aufwiegeln!)

Diese Rhetorik ist – in der Tat – auch faktisch falsch.

Jedes Jahr fließen rund 30 Milliarden Euro zusätzlich an ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner über den Transfer von der westdeutschen in die ostdeutsche Rentenkasse. Das ist eine Tatsache. Das ist eine Solidarleistung. Das ist seit vielen Jahren so der Fall. Das ist auch gut, und das ist okay.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und warum soll das aufhören?)

– Das hört auch nicht auf, weil die Ungleichheiten ökonomischer Art, beim Beschäftigungsstand usw. bestehen bleiben, auch wenn die Höherwertung eines Tages nicht mehr da ist.

Ich finde, dass man diese Solidarleistung auch würdigen muss. Mit Ihrer Demütigungsrhetorik ziehen Sie diese Solidarleistung aber in den Dreck. Das finde ich nicht in Ordnung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Machen wir nicht! Es gibt keine Demütigungsrhetorik!)

– Mir ruft gerade der Kollege Matthias Birkwald zu, es gebe keine Demütigungsrhetorik. Dann lesen Sie mal Ihren eigenen Antrag.

(Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Eben!)

Da steht der Satz drin: Diese Demütigung muss aufhören. – Das haben Sie selbst geschrieben. Behaupten Sie nicht das Falsche.

(Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Matthias! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist keine Demütigungsrhetorik! Das ist die Wahrheit!)

Ein weiterer Punkt ist: Dort, wo wir Regelungen haben – es wurde schon von Frau Schimke genannt, der ich sonst selten zustimme –, beispielsweise bei den Tarifverträgen, bei den Löhnen, haben wir die Ost-West-Angleichung quasi schon vollzogen. Da kann man natürlich jammern und schimpfen und sagen: Die Tarifbindung ist in Ostdeutschland zu niedrig. – Und genau das stimmt auch. Sie ist zu niedrig. Deswegen brauchen wir eine erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das wäre der richtige Weg und nicht der, irgendwie über die Rentenversicherung nachzutarocken. Ich bin wie Bodo Ramelow dafür, dass man in den Aufholprozess, in den Aufbau investiert, anstatt rückwärtsgewandt Abstände zu subventionieren. Ich glaube auch: Nur so gewinnt man Wahlen in Ostdeutschland.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Daniela Kolbe [SPD])

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Ralf Kapschack.

(Beifall bei der SPD)