Saskia Weishaupt MdB
18.10.2023

Saskia Weishaupt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Stellen Sie sich mal eine Kfz-Mechatronikerin vor. Sie macht eine dreieinhalbjährige Berufsausbildung und möchte motiviert ins Arbeitsleben starten – Reifen wechseln, den Steinschlag reparieren oder auch die Bremsanlage erneuern. Aber um genau diese Dinge zu tun, reicht ihre über dreijährige Berufsausbildung nicht aus, obwohl sie es dort gelernt hat. Um beispielsweise eine der häufigsten Reparaturen wie die Erneuerung der Bremsanlage zu machen, bräuchte sie ein Extrazertifikat. Kostenpunkt: über 1 000 Euro, und die muss sie auch noch selber bezahlen. Erst mit diesem Zertifikat darf sie die Reparatur machen. Klingt für Sie verrückt? Das ist es auch – und glücklicherweise für die Kfz-Mechatronikerin frei erfunden.

Aber wissen Sie, für wen das die Realität ist? Für Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten in Deutschland. Die derzeitige Ausbildung in der Physiotherapie wird dem, was der Beruf aktuell leistet, in keiner Weise gerecht. Das fast 30 Jahre alte Berufsgesetz enthält nicht nur veraltete Ausbildungsinhalte, sondern führt auch dazu, dass ausgebildete Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten viele Leistungen nach Abschluss ihrer Ausbildung überhaupt nicht durchführen dürfen. Die 2023 fertig ausgebildeten Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten dürfen immer noch für Tausende Euro Zertifikate machen, um dann Standardleistungen an Patientinnen und Patienten wie manuelle Therapie oder Lymphdrainage durchzuführen. Das ist ein Armutszeugnis und eine Geringschätzung dieses so wichtigen Berufs.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN und des Abg. Manfred Todtenhausen [FDP] – Unruhe bei der AfD)

– Man merkt: In den ersten zwei Reihen auf der rechten Seite besteht anscheinend gar kein Interesse an der Physiotherapie; aber das ist nach dieser Rede von Frau Baum auch nicht weiter erforderlich.

Eine Reform der Berufsausbildung ist für uns als Koalition daher dringend notwendig,

(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und ich freue mich, dass auch die CDU/CSU dies anerkennt. Es braucht angesichts seiner Bedeutung mehr Anerkennung des Berufs, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und die Physiotherapie letztendlich zukunftsfähig zu gestalten. Ich muss hier aber auch noch mal an das Bundesgesundheitsministerium appellieren, die Reform der Physiotherapie und die seit mehreren Jahrzehnten ausstehenden Reformen der Logo- und Ergotherapie endlich in die Tat umzusetzen. Es wird Zeit!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Physiotherapeutinnen und -therapeuten leisten tagtäglich einen unverzichtbaren Beitrag zur Patientinnen- und Patientenversorgung. Sie helfen Menschen, Schmerzen zu lindern, sich nach Verletzungen oder Operationen zu erholen oder ihre Lebensqualität zu verbessern. Für viele Patientinnen und Patienten ist Physiotherapie dabei mehr als nur eine medizinische Behandlung. Sie ist elementarer Teil des Lebens, ein Prozess, in dem sie gemeinsam mit den Physiotherapeutinnen und -therapeuten Woche für Woche kleine Fortschritte erkämpfen, in dem sie ihre Selbstständigkeit wiedergewinnen und sich Leiden vielleicht etwas bessern. Für manche Patientinnen und Patienten bedeutet das sogar, dass sich das ganze Leben noch mal verändert, indem sie beispielsweise ein zweites Mal laufen lernen.

Physiotherapeutinnen und -therapeuten leisten dabei oftmals nicht nur das Anleiten von Übungen. Sie werden eine Stütze im Leben ihrer Patientinnen und Patienten und gehen mit ihnen durch Erfolge, aber auch durch schwere Zeiten – das dürfen wir nicht verkennen –, wenn die Erkrankungen schwerer werden oder die Mobilität immer eingeschränkter wird. Nicht selten sind sie es, die ihren Patientinnen und Patienten hierbei trotz allem Hoffnung geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Die Fähigkeiten von Physiotherapeutinnen und -therapeuten gehen längst über die einfache ärztliche Hilfstätigkeit hinaus. Dies muss nicht nur anerkannt, sondern auch im Ausbildungssystem unterstützt werden, damit wir dem damit verbundenen Anspruch endlich gerecht werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir schulden unseren Physiotherapeutinnen und -therapeuten eine zeitgemäße Berufsausbildung, die nicht nur umfassende inhaltliche Expertise vermittelt; sie brauchen auch Kompetenzen im wissenschaftlichen Arbeiten und in evidenzbasierter Behandlung. So schaffen wir letztendlich die Voraussetzungen für eigenverantwortliche Therapien und die Weiterentwicklung der Profession.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Langfristig müssen wir aber, ehrlich gesagt, auch am Gesundheitssystem arbeiten. Wir dürfen nicht immer die Ärzteschaft in den Mittelpunkt stellen und alles drumherum in der Versorgung ignorieren. Dies ist nicht nur für die Versorgungssicherheit unerlässlich; es ist auch eine Anerkennung der Kompetenz und Bedeutung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Um dies zu erreichen, müssen wir die Gesundheitsberufe mit einer hochwertigen Ausbildung einerseits und umfassenden medizinischen Kompetenzen andererseits ausstatten. Für die Physiotherapie bedeutet das neben einer Reform der Ausbildung auch, die Expertise der Physiotherapeutinnen und -therapeuten durch die Möglichkeit eines Direktzugangs endlich anzuerkennen

(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und ihnen weitreichende medizinische Kompetenzen zuzusprechen sowie eigenverantwortliches Handeln ohne ärztliche Weisung zu ermöglichen. Das ist lange überfällig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Baehrens [SPD])

Die Fragen, die wir uns im Zuge der konkreten Ausgestaltung der Berufsreform stellen müssen, sind komplex und sicherlich nicht einfach zu beantworten. Für mich ist aber klar, dass wir neben einer umfassenden Reform der Berufsausbildung sicherstellen müssen, dass der Beruf der Physiotherapie niemandem aufgrund eines Schulabschlusses verwehrt bleibt oder berufserfahrene Therapeutinnen und Therapeuten gegenüber studierten jüngeren abgewertet werden. Klar ist aber auch, dass eine sinnvolle Reform nur in enger Zusammenarbeit mit den Therapeutinnen und Therapeuten erfolgen kann, indem wir ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen und auch die Interessen aller Verbände und nicht nur die eines einzelnen verfolgen. Das braucht es nämlich in dieser Debatte.

Zum Abschluss möchte ich noch eins betonen: Die Politik hat es in den letzten 10 bis 20 Jahren schlichtweg verschlafen, die Physiotherapie fit für die Zukunft zu machen. Wir haben die Laufzeit der Modellstudiengänge zweimal verlängert, und die Leidtragenden sind letztendlich die Beschäftigten und auch die Auszubildenden. Sie warten seit Jahrzehnten auf Modernisierung. Mit der ständigen Verschleppung dieser Reform wird der Beruf schlichtweg unattraktiv. Dieser Verantwortung müssen wir uns endlich stellen; das braucht es jetzt.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)