Rede von Markus Kurth Rente

27.09.2018

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor fast genau zwei Jahren verkündete das damals wie heute SPD-geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Zwangsverrentung von älteren SGB-II-Beziehenden abgeschafft zu haben. Kurz danach stellte sich aber heraus: Sie bleibt bestehen. Geändert wurde lediglich die sogenannte Unbilligkeitsverordnung. Demnach sind jetzt Zwangsverrentungen ausgeschlossen, wenn die Betroffenen danach eine so geringe Rente hätten, dass sie dauerhaft auf Grundsicherung im Alter angewiesen wären.

Laut einer aktuellen Studie der Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes auf Basis neuer Daten der Bundesagentur für Arbeit ist auch heute noch schätzungsweise von einer fünfstelligen Zahl von zwangsverrenteten Menschen pro Jahrgang auszugehen. Sie alle müssen mit erheblichen Rentenabschlägen rechnen. Rund die Hälfte davon sind Frauen, die ohnehin besonders häufig nur geringe Rentenansprüche haben.

Natürlich ist die Änderung der Unbilligkeitsverordnung vor diesem Hintergrund nicht ausreichend – übrigens nicht zuletzt auch, weil die bestehende Regelung erhebliche Rechtsunsicherheiten schafft. Denn es gibt eine weitere Ausnahmeregelung: Zwangsverrentet wird nach § 3 der Unbilligkeitsverordnung nicht, wer die Altersrente „in nächster Zukunft“ abschlagsfrei in Anspruch nehmen kann. Was „in nächster Zukunft“ bedeutet, lässt die Verordnung aber offen. Die Interpretation obliegt den Gerichten. So legte das Bundessozialgericht sich zuletzt fest, dass jedenfalls vier Monate noch in diesen Zeitraum fallen. Wie weit dieser mit der wohl kommenden Rechtsprechung noch geöffnet wird, bleibt aber offen. Das ist unbefriedigend. Denn Unklarheit in Fragen der materiellen Existenz ist kaum zu rechtfertigen.

Für Bündnis 90/Die Grünen ist das nicht akzeptabel. Wir fordern, und das seit vielen Jahren, die komplette Abschaffung der Möglichkeit von Zwangsverrentung. Zwangsverrentungen gegen den Willen der Betroffenen sind individuell höchst problematisch. Politisch gesehen sind sie zudem aus zwei Gründen abzulehnen:

Zum einen konterkarieren sie Anstrengungen der Arbeitsmarktpolitik für eine verbesserte Vermittlung bzw. Beschäftigung von älteren Arbeitslosen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales legt den Nachrangigkeitsgrundsatz im SGB II offensichtlich immer noch dahin gehend aus, dass grundsätzlich auch die Inanspruchnahme einer Rente mit Abschlägen zum frühestmöglichen Zeitpunkt von den Arbeitsuchenden verlangt werden kann. Diese Auslegung widerspricht aber einer anderen Zielsetzung der Bundesregierung: der schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre. Flankierend zur Anhebung ist es die erklärte Absicht der Bundesregierung, die Erwerbsintegration von älteren Beschäftigten verbessern zu wollen. Auf Seite 93 des Koalitionsvertrages zwischen den Unionsparteien und der SPD bekennen sich die beiden Parteien dazu, „Möglichkeiten und Anreize zum freiwilligen längeren Arbeiten“ schaffen zu wollen. Dazu passt es nicht, wenn Arbeitslose nach wie vor gegen ihren Willen dazu gedrängt werden können, frühzeitig mit Abschlägen in Rente gehen zu müssen.

Zum anderen – das ist mein zweiter Punkt – passen sie aber leider in das Bild der Bundesregierungen seit dem Jahr 2005: Langzeitarbeitslose bzw. Bezieherinnen und Bezieher von ALG II sind das bevorzugte Opfer, wenn es darum geht, mit der Abgrenzung nach unten Stimmung zu machen. Das lässt sich an vielen weiteren Beispielen zeigen:

Die Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen hat die SPD vor rund zehn Jahren zusammen mit der Union eingeführt. Und auch bei den Rentenversicherungsbeiträgen für ALG-II-Empfänger waren sie nicht untätig. Seit 2011 werden bei einem Bezug von Arbeitslosengeld II keine Rentenversicherungsbeiträge mehr von der Agentur für Arbeit gezahlt – eine versteckte Sozialkürzung, die sich auch noch indirekt negativ auf das gesetzliche Rentenniveau auswirkt, zum Schaden aller heutigen und auch aller zukünftigen Rentnerinnen und Rentner. Der Hartz-IV-Regelsatz wird immer noch mit mehr als fragwürdigen Methoden kleingerechnet. Und das Bildungs- und Teilhabepaket ist ein bürokratisches Ungetüm, aber keine echte Hilfe für diejenigen, die Hilfe benötigen.

Im Koalitionsvertrag lese ich wenig bis nichts zur Frage, ob und wie die Bundesregierung diesen Entwicklungen entgegensteuern will. Dabei sind die jüngst veröffentlichten Schätzungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Anlass genug, jetzt in jedem Fall das Thema Zwangsverrentung wieder auf die Tagesordnung zu heben.