Rede von Markus Kurth Rentenanpassung

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13.05.2022

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Straubinger, wenn ich in der letzten Zeit die Reden der Union zum Thema Sozial- und Arbeitsmarktpolitik höre, habe ich gemischte Gefühle. Einerseits freue ich mich ja, dass Sie jetzt nicht haarscharf den neoliberalen oder wirtschaftsliberalen Kurs einschlagen, sondern sich tatsächlich zu den Prinzipien unseres Sozialstaats bekennen und in dem Rahmen argumentieren.

Auf der anderen Seite muss ich mich doch sehr wundern, wie Sie uns von der Ampel jetzt hier quasi links überholen wollen und zusätzliche Leistungsausweitungen fordern, die Sie alle in den letzten 16 Jahren blockiert haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Quatsch!)

Zum Beispiel: Wer hat Sie denn daran gehindert, Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente im Bestand, also das, was wir hier heute einbringen und in erster Lesung beraten, vorzunehmen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Haben wir doch gemacht!)

Ich will nicht in Abrede stellen, dass Sie in insgesamt drei Stufen in den letzten acht Jahren für Neurentnerinnen und Neurentner Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente vorgenommen haben; dem haben wir damals auch zugestimmt. Aber für die Bestandsrentnerinnen und Bestandsrentner ist nichts dabei herausgekommen, und das holen wir jetzt hier als Ampelkoalition nach.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur zum Teil! Nur zur Hälfte! – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Warum entlasten Sie eigentlich nicht die Rentner bei den Energiepreisen?)

Natürlich kann man jetzt sagen: Das ist noch nicht genug. Die Verbesserungen, die damals die Neurentner, Zutrittsrentner bekommen haben, müssten noch etwas höher sein. – Dafür haben wir ja ein parlamentarisches Verfahren; da können wir dann darüber diskutieren. Ich bin auch der Auffassung, dass wir hier noch mal etwas verbessern sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das ist nicht nur sozusagen aus sozialer Verantwortung geboten, sondern diese Stärkung einer elementaren Absicherung in unserem Sozialsystem hat auch etwas mit der Stabilisierung der Wirtschaft zu tun.

Ich gehe mal zurück zu den Anfängen der Rentenversicherung im Jahr 1889.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Geschichtsstunde!)

Damals ist als erster Baustein die sogenannte Invalidenrente, also die heutige Erwerbsminderungsrente, eingeführt worden, und zwar nicht als Gnadenakt gegenüber Beschäftigten, sondern weil es eine Voraussetzung für das abhängige Beschäftigungsverhältnis, für die Durchsetzung des modernen Kapitalismus war. Mein Wahlkreis ist im Ruhrgebiet. 1889 entstand dieses große Industriegebiet. Die Arbeitskräfte mussten aus Masuren, dem heutigen Polen, angeworben werden. Welche Veranlassung hätten diese gehabt, fern ihrer Familie und jeder Absicherung in dieses dunkle Loch zu steigen, wo einem jederzeit ein schwerer Kohlebrocken oder ein Stein das Bein zertrümmern konnte? Welche Veranlassung hätten Burschen vom Lande gehabt, in Stahlwerke mit offenen Bändern zu gehen, wo einem mal schnell der Arm abgerissen werden konnte? Die haben das unter anderem auch nur deswegen gemacht – die Arbeitgeber und die Industriellen mussten da was anbieten –, weil es eine Absicherung gab für diesen Fall, der damals gar nicht so unwahrscheinlich war.

Insofern ist soziale Sicherung nicht irgendetwas, was man sich erst mal leisten oder finanzieren muss, sondern es ist die Kehrseite der wirtschaftlichen Verwertung der menschlichen Arbeitskraft. Ich will Sie mal auf diesen grundsätzlichen Zusammenhang aufmerksam machen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

weil mich in den Debatten um Sozialpolitik häufig stört, dass Lohnnebenkosten als Belastung und als Bürde gesehen werden. Es heißt dann: Das muss man doch erst mal erwirtschaften. Das ist ein Hindernis für die Wirtschaft. – Nein, nein, nein! Es ist so, dass beides zusammengehört und beides Voraussetzung dafür ist, dass unsere Volkswirtschaft funktioniert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Im Übrigen wird das auch gespiegelt, wenn uns Delegationen aus sogenannten Schwellenländern oder schon nicht mehr nur Schwellenländern, also Industrieländern, besuchen. Es ist ja häufiger mal der Fall, dass aus China, Indonesien – daran kann ich mich erinnern – oder auch anderen Ländern Parlamentarier kommen, um sich anzugucken, wie unser Sozialsystem läuft. Das, was sie einhellig sagen, ist: Für unsere weitere wirtschaftliche Entwicklung brauchen wir eine Sozialversicherung, und zwar aus volkswirtschaftlichen Gründen. Denn was tun Leute beispielsweise in China, die sich sozusagen in den Mittelstandsbereich hochgearbeitet haben? Was tun die, wenn es keine Krankenversicherung, keine Rentenversicherung gibt? Sie sparen. Sie sparen wie die Irren, und darum ist die Sparquote in China riesenhoch. Es gibt den grauen Kapitalmarkt. Es gibt Millionenstädte, die halb leer stehen, weil die Leute die Wohnungen als Altersvorsorge besitzen. Es gibt also schwerste volkswirtschaftliche Unwuchten.

Ein nicht vorhandenes Sozialsystem ist ein wirtschaftliches Hemmnis. Da wird ein Schuh draus, und das, finde ich, sollten sich gerade diejenigen von der Arbeitgeberseite und die, die meinen, sie politisch repräsentieren zu können, vergegenwärtigen, damit wir hier zu einem positiven volkswirtschaftlichen Ansatz kommen. Die Ampel wird in diesem Bewusstsein und dieser Verantwortung die Erwerbsminderungsrente weiterentwickeln und auch noch eine Menge weitere Rentenpakete auf den Weg bringen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Ulrike Schielke-Ziesing.

(Beifall bei der AfD)