Rede von Kai Gehring Rudi-Dutschke-Stipendium

29.11.2018

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) : Manche tun sich schwer mit einem positiven Bekenntnis zu den Leistungen der 68er; das erleben wir auch in dieser Debatte zu später Stunde.

„Die 68er“ polarisieren damals wie heute. Auch ich kritisiere manches, was einzelne „68er“ verzapft haben, gerade wenn ich an manche antisemitische oder antiamerikanische Ausfälle denke. Gleichzeitig sehe ich aber auch die großen Verdienste und progressiven Impulse für die gesellschaftliche, sozial-ökologische Modernisierung der Bundesrepublik Deutschland.

Die 68er-Generation in Deutschland hat die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erfolgreich eingefordert. Die 68er und ihre Vorläufer haben den Boden bereitet für zahlreiche Emanzipationsbewegungen, wie die Frauen- und Homosexuellenbewegung sowie die Friedens-, Anti-Atomkraft- und Ökologiebewegung.

Das Infragestellen verkrusteter Strukturen hat zu einer pluralen Demokratie beigetragen. Es wäre schön gewesen, sich interfraktionell im Bundestag darauf zu verständigen, damit es im 50. Jubiläumsjahr eine differenzierte Würdigung der Protestgeneration gegeben hätte.

Statt solch einer großen Debatte diskutieren wir hier im kleinen Kreis die Idee, ein „Rudi-Dutschke-Stipendium“ für kritische Sozialwissenschaften einzuführen – ein wohlgewählter Namensgeber, ein charismatischer Vordenker. Das ist aus meiner Sicht ein origineller Vorstoß der Linksfraktion, dem wir zustimmen, und ich verbinde mit der Zustimmung auch die klare Botschaft: Rudi Dutschke, Petra Kelly und viele andere sind herausragende Persönlichkeiten dieser Generation, die viel für die gesellschaftliche Erneuerung Deutschlands auf den Weg gebracht haben.

Der Erfolg der Emanzipationsbewegung ist aber auch den Millionen und Abermillionen zu verdanken, die zu Hause am Frühstückstisch für Demokratisierung und gegen alte Autoritäten und überkommene Moralvorstellungen gestritten haben. Danke dafür!

Gerne wird von Ultra-Konservativen vorgetragen, „die 68er“ hätten die angeblich „heile“ Gesellschaft der 1950er-Jahre zerstört.

Das ist erstens wissenschaftlich großer Unsinn. Sekundärtugenden sind mitnichten in Vergessenheit geraten, sondern es sind Werte hinzugekommen wie Selbstbestimmung, Freiheit und Engagement.

Zweitens: Was heißt es denn, die Erfolge der neuen sozialen Bewegungen zurückzudrehen? Zurück zur Atomkraft? Raus aus Europa? Frauen an den Herd? Schwule und Lesben an den Pranger? Ohrfeigen für Kinder als Erziehungsmittel? Nein, das kann doch niemand ernsthaft wollen.

Die 68er waren eine zeitlich begrenzte Protestbewegung, die einige Vorläufer hatte und die mitentfacht wurde durch kritische Studierende auf den Campi und in den Hörsälen. Man denke an die Wiederbewaffnung Deutschlands oder an die Debatte um die soziale Öffnung der Gymnasien und Universitäten – Stichwort: Bildungschancen für das katholische Mädchen vom Lande.

Chancengleichheit zu schaffen, ist nach wie vor eine gewaltige Aufgabe, vor der wir stehen. Ein Stipendienprogramm, das sich kritischer Wissenschaft widmet und Geisteswissenschaftler adressiert, ist grundsätzlich sinnvoll. Denn das Deutschlandstipendium geht an diesen Zielgruppen weitgehend vorbei, wie BMBF-Evaluationen zeigen.

Wichtig ist uns daher vor allem, bestehende Stipendienangebote noch mehr auf Durchlässigkeit, Bildungsaufstieg und Vielfalt auszurichten. Fast alle Begabtenförderungswerke haben bei ihrer Stipendienvergabe in den letzten Jahren entsprechende Fortschritte gemacht.

Und noch wichtiger ist, das BAföG als Bildungsgerechtigkeitsgesetz Nummer 1 zu stärken. Der Plan von Bundesbildungsministerin Karliczek, das BAföG mit einer Packung Heftpflaster gesunden zu lassen, ist nicht überzeugend. Da muss mehr kommen, um die Versäumnisse der letzten Jahre auszubügeln.

Wir haben allen Anlass, die Leistungen der 68er-Generation und der Studierendenbewegung im 50. Jubiläumsjahr viel stärker zu würdigen. Die 68er-Bewegung hat unser Land geprägt und sichtbare Spuren hinterlassen. Deutschland ist moderner und liberaler geworden, und selbst CDU/CSU-geführte Regierungen haben das nicht zurückdrängen wollen.

In München wurde ein Stück der Franz-Josef-Strauß-Allee in Petra-Kelly-Allee umbenannt. In Berlin-Kreuzberg trifft die Rudi-Dutschke-Straße auf die Axel-Springer-Straße – ampelgeregelt, damit nichts passiert.

Sie sehen, Würdigung ist etwas ganz Normales. Ich frage mich allerdings, welcher verbohrte Konservative dafür gesorgt hat, dass die Axel-Springer-Straße seit Kurzem Vorfahrt hat!

Es gibt weiter viel zu tun.