Rede von Dr. Manuela Rottmann Schadenersatz für Kapitalanleger*innen
Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich sehe in ein bisschen leere Gesichter. Ich fürchte, dass viele von Ihnen denken: Wow, was für ein trockenes Brot. – Vielleicht kann ich Sie dann doch für dieses Thema, das mir sehr am Herzen liegt, ein bisschen begeistern. Ich will es versuchen.
Wenn Sie an den Rechtsstaat denken, was erwarten Sie vom Rechtsstaat? Sie erwarten zum Beispiel, dass vor Gericht nicht entscheidend sein darf, wie finanzstark eine der beiden Parteien ist. Sie erwarten vielleicht, dass derjenige, der Abgaswerte von Fahrzeugen manipuliert, der Bilanzfälschungen zulasten von Anlegern betreibt oder der Sie durch falsche Kapitalmarktinformationen schädigt, den Schaden ersetzen muss. Sie erwarten, dass Verfahren nicht verzögert werden können, bis tatsächlich nur die Erben von einer erfolgreichen Klage noch etwas haben. Und Sie würden es doch genau wie ich so sehen, dass es eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen unserer Gerichte ist, wenn ein und derselbe Zeuge in Tausenden, in Hunderttausenden von Verfahren vernommen werden muss, um ein und dieselbe Frage zu klären.
Um all diese Fragen geht es beim Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz. Es geht schon lange nicht mehr um die Telekom. Es geht um Wirecard, es geht um Bayer, es geht um den Dieselabgasskandal, was sich auch in den Kursen der jeweiligen Unternehmen niedergeschlagen hat. Und es geht um den Wirtschaftsstandort Deutschland; denn zu seiner Wettbewerbsfähigkeit gehört auch der Wettbewerb der Rechtsordnungen. Ob der deutsche Aktienmarkt attraktiv ist für internationale Anleger, entscheidet sich auch daran, ob im Konfliktfall wirkungsvolle Verfahren zur Verfügung stehen.
Ich bin der Auffassung, dass die Debatte um echten kollektiven Rechtsschutz, der nicht so versäult ist, wie wir das jetzt haben, immer dringlicher wird. Sie wissen auch, dass wir, die grüne Bundestagsfraktion, da gerne viel mutiger und viel moderner denken würden, weil wir glauben, dass echte kollektive Rechtsschutzverfahren, wie die von uns vorgeschlagene Gruppenklage, überfällig sind.
Wir hatten neulich die Anhörung zum Leitentscheidungsverfahren. Ein Sachverständiger – meiner Erinnerung nach war es Dr. Allgayer vom BGH – hat sich gewünscht, dass der Gesetzgeber jetzt endlich einmal vor die Welle kommt. Ich kann diesen Stoßseufzer vollkommen nachvollziehen.
(Dr. Martin Plum [CDU/CSU]: Aber Sie sind der Gesetzgeber!)
Der Beschluss des Deutschen Juristentags stammt aus 2018; das ist auch schon fast sechs Jahre her. Es ist also dringlich.
Herr Dr. Plum, Sie waren in der letzten Wahlperiode noch nicht dabei; deswegen ist Ihnen eines entgangen. Der größte Lernfortschritt in Ihrer Fraktion ist nach Ihrer Rede festzustellen. Ich begrüße das ausdrücklich. Ich bin vor Begeisterung fast vom Stuhl gesprungen. Wissen Sie, warum? Weil das Wort „Klageindustrie“ nicht ein einziges Mal gefallen ist. Die Position der Union bis zu Ihrer Rede war, dass sie kollektiven Rechtsschutz komplett abgelehnt hat, dass sie schwarzgemalt hat, von Sammelklagen und Zuständen wie in den Vereinigten Staaten gesprochen hat. Also herzlichen Glückwunsch zu diesem Lernerfolg! Ich freue mich, mit Ihnen zusammen in den folgenden Beratungen wirksame Instrumente zu entwickeln.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dass wir heute über eine Entfristung reden, finde ich richtig. Das war nicht selbstverständlich. Am Ende der letzten Wahlperiode gab es auch viele, die gesagt haben, wir brauchten dieses Gesetz überhaupt nicht mehr. Ich bin aber sicher, dass die Debatte um kollektiven Rechtsschutz mit dieser Änderung nicht enden wird.
Damit das KapMuG schlagkräftiger wird, lässt es sich leider nicht vermeiden, dass wir uns die Details noch einmal anschauen. Die Kollegen haben einige der Punkte, die zu diskutieren sind, angesprochen.
Die Stärkung der Rolle der Oberlandesgerichte begrüßt, glaube ich, jeder von uns. Aber ob die vorgesehenen Entscheidungen durch die OLGs ohne Kenntnis der Prozessakten so getroffen werden können, das können wir uns einfach noch einmal angucken. Vielleicht sollten wir auch überlegen, ob wir den Landgerichten noch eine stärkere Mitwirkung zumuten.
Eine weitere Frage ist: Sind die vielen Beteiligten wirklich der Grund für die lange Verfahrensdauer? Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass es andere Rückmeldungen aus der Praxis gibt.
Wie machen wir es mit der Rechtskrafterstreckung? Auch das, glaube ich, sollten wir uns noch einmal genauer anschauen. Wir wollen ja, dass das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz eine Konzentrationswirkung erreicht. Ich glaube, da gibt es bessere Ideen.
Natürlich kann man Fristen verkürzen. Aber entscheidend scheint mir, dass wir uns den Prüfungsaufwand in bestimmten Verfahrensabschnitten noch einmal anschauen, zum Beispiel die Frage, welche Anforderungen wir daran stellen, dass der Ausgang des Musterverfahrens vom Ausgang des einzelnen Rechtsstreits abhängig ist. Durch die Rechtsprechung des BGH haben wir zurzeit sehr hohe Anforderungen. Ich glaube, wir sollten sie auf ein praktikables Maß zurückführen.
Auch bei der Beweislastfrage können wir etwas tun. Es gibt Vorbilder im GWB, aber auch in dem von Justizminister Buschmann durchgesetzten Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz, an dem wir uns orientieren können.
Verfahrensrecht kann einiges. Es kann aber nicht alles. Es kann nicht komplizierte tatsächliche oder rechtliche Fragen in Luft auflösen. Das geht nicht. Aber es kann verhindern, dass sich viele, viele, viele, viele, viele Kammern im ganzen Land gleichzeitig mit diesen Fragen herumschlagen müssen, und daran wollen wir zusammen arbeiten.
Warum ich dieses trockene Brot sehr gerne kaue, warum ich dieses Thema toll finde, ist: Wir haben eine unglaublich engagierte Fachöffentlichkeit, engagierte Richterinnen und Richter, die sich in die Debatte einbringen wollen. Das sollten wir in diesem Gesetzgebungsverfahren nutzen; denen sollten wir zuhören. Ich danke Justizminister Marco Buschmann für diese Vorlage. Wir werden etwas Gutes daraus machen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Vizepräsident Wolfgang Kubicki:
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Rottmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthilde Wittmann, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)