Rede von Dr. med. Paula Piechotta Schlussrunde Haushalt 2024
Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Diese Gesellschaft ist offensichtlich gereizt. Viele Menschen im Land sind nach drei schweren Jahren angespannt, manche überspannt – und auch wir, wir Menschen hier in diesem Parlament, sind nach diesen Jahren in vielen Fällen gereizt, überspannt und ausgelaugt. Das sieht man in der Koalition, das sieht man in der Opposition, gerade auch bei der Union. Und ja, das sieht man auch auf den Videomitschnitten von dieser Woche, von den Haushaltsdebatten in diesem Haus.
Wir sollten in den letzten drei Jahren eigentlich gelernt haben: Je unübersichtlicher die Zeiten sind, umso klarer müssen unsere Antworten sein. Das hat uns erfolgreich gemacht in den Coronajahren, das hat uns erfolgreich gemacht im letzten Herbst in der Energiekrise, und eigentlich bräuchte es das auch jetzt. Der große Unterschied zum letzten Jahr, in dem wir erfolgreich waren und gut über den Winter gekommen sind, der große Unterschied zu den Coronajahren, als Opposition und Regierung zusammenstanden und wir erfolgreich durch die Krise gekommen sind, ist, dass jetzt, ausgerechnet jetzt, dieser Zusammenhalt bröckelt.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Florian Oßner [CDU/CSU]: Das ist aber nicht zusammenhangslos!)
Im Ergebnis sinkt das Vertrauen in die demokratischen Einrichtungen in diesem Land. So werden wir es nicht schaffen, die aktuelle Krise zu bewältigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Lassen Sie mich mal erzählen. Wir haben, auch in dieser Woche hier, wieder viel über uns und über das Verhältnis von Union zu Ampel und umgekehrt geredet.
(Florian Oßner [CDU/CSU]: Nein, innerhalb der Ampel!)
Aber das hat konkrete Auswirkungen im ganzen Land. Da ist zum Beispiel, quasi bei mir um die Ecke, der parteilose Bürgermeister von Grimma – Grimma, eine 30 000-Einwohner-Stadt im schönen Landkreis Leipzig. Er hat vor ein paar Wochen gesagt, seine Kommune habe in zwei Wochen 30 Förderbescheide von Bund und Land abgelehnt bekommen. „Liebe Leute, das zeigt vor allem eins: Deutschland ist pleite“, das war seine Schlussfolgerung. Das sagt er seinen Bürgerinnen und Bürgern, weil er es sich einfach machen will, weil er nicht erklären will, wie vielleicht die Anträge formuliert waren, weil er nicht erklären will, dass vielleicht die Fördertöpfe ausgereizt waren, weil er nicht erklären will, dass 30 Anträge von einer Kommune selten alle positiv beschieden werden.
Stattdessen macht er das, was viele auch in diesem Haus in diesen Zeiten immer wieder machen: Wenn die Antworten zu kompliziert zu werden drohen, fängt man an, Nebenschauplätze aufzumachen, und fängt an, „Wir gegen die“ zu spielen. In seinem Fall: Wir ehrliche Bürgermeister, die den Leuten noch reinen Wein einschenken, gegen die komischen abgehobenen Abgeordneten in Berlin oder im sächsischen Freistaat.
(Zuruf des Abg. Mike Moncsek [AfD])
Dieses permanente Gegeneinander, dieses ständige Aufmachen von „Wir gegen die“, das sehen wir aber nicht nur in Grimma, meine Damen und Herren; das sehen wir in bayerischen Festzelten, wo plötzlich ganze Städte so definiert werden, dass sie eigentlich nicht mehr zu Deutschland gehören dürften. Das sehen wir aber auch in den sozialen Medien, wo von Leuten aus Westdeutschland gesagt wird, dass, wenn man nur den Osten abspalten würde, die Demokratie in Deutschland wieder gerettet wäre. Und ja, das sehen wir auch in Sachsen, wo mir dort erklärt wird, dass jeder, der in Leipzig oder in Dresden wohnt, jeder, der Hafermilch statt Kuhmilch trinkt, jeder, der kein Auto hat, angeblich nicht zu Sachsen gehört. Meine Damen und Herren, genau das ist eines der großen Probleme in diesen Tagen in unserem Land.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
In dieser Woche wurde häufiger gesagt: Wer Vielfalt zu Gegensätzen macht, wer Grenzen hochzieht, der gibt die politische Mitte preis. – Das haben Robert Habeck und Katharina Dröge – wenn auch nicht als Einzige – diese Woche gesagt. Aber ich möchte ergänzen: Wer, wenn die Antworten zu kompliziert werden, als dass man sie in der eigenen Partei schon fertig hätte, stattdessen anfängt, die politische Strategie zu fahren „Im Zweifel ist es einfacher, einfach nur das politische Gegenüber so madig und so schlecht wie möglich zu reden und den Standort Deutschland gleich mit“, der zerbröselt zwischen den eigenen Händen die politische Mitte, auf die er selbst angewiesen ist.
Ich empfehle insbesondere den Kollegen von der Union die inzwischen offen geführten Interviews des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, in denen es um nichts anderes geht als um die Zerstörung der Union nach dem Vorbild in vieler anderen europäischen Nachbarländern.
(Beifall des Abg. Felix Banaszak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Meine Damen und Herren, wir haben ein großes Interesse an einer stabilen Union; denn eine stabile Union ist einer der Garanten für eine stabile Demokratie in diesem Land.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Die Episode in Grimma zeigt aber auch: Der Bundeshaushalt ist wichtig, weil er bis in die letzte Ecke dieses Landes Realitäten schafft, wenn er gut gemacht ist. Ja, er wird im nächsten Haushaltsjahr moderat zurückgeführt, aber wirklich moderat: von 476 Milliarden Euro auf 445 Milliarden Euro. Es ist immer noch ein sehr großer Haushalt, der zentrale Antworten auf die Fragen unserer Zeit gibt. Die zentralen Fragen sind nicht „Hafermilch oder Kuhmilch?“. Eine zentrale Frage ist unter anderem: Was sind die Zukunftstechnologien „made in Germany“? Darauf gibt dieser Haushalt große Antworten, unter anderem im Hinblick auf die Halbleiterindustrie. Der Haushalt gibt Antworten darauf, wie wir es schaffen, im 21. Jahrhundert endlich wieder eine Verkehrsinfrastruktur mitten in Europa zu haben, die dazu führt, dass Verkehr auch in Deutschland und von und nach Deutschland wieder funktionieren kann. Und ja, der Haushalt gibt auch Antworten darauf, wie eine Modernisierung und Entbürokratisierung gerade auch im Bereich der Sozialausgaben funktionieren kann.
Der Haushalt gibt aber nicht auf alle Fragen Antworten. Deswegen freue ich mich auch auf jeden Meinungsbeitrag in der „FAZ“ von Unionskollegen, zum Beispiel zu der Frage: Wie sichern wir wirklich nachhaltig unsere Sozialversicherungssysteme? Liebe Union, machen Sie bitte nicht jeden Autor eines solchen Papieres, das dazu aus Ihren Reihen kommt, sofort einen Kopf kürzer. Aber genau das sind zentrale Fragen unserer Zeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Mir wird am Ende trotzdem nicht angst und bange um dieses Land, weil ich weiß, dass sich im Regelfall in den Parteien diejenigen durchsetzen, die im Zweifel das politische Wohl dieses Landes über den kurzen Vorteil im Tagesgeschäft stellen.
Vizepräsidentin Yvonne Magwas:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Und weil wir auch alle in diesen Wochen bei der Linkspartei sehen können, was passiert, wenn das in einer Partei nicht mehr der Fall ist, wenn dort den destruktiven Kräften zu lang Zeit gegeben wurde und zu viel mit sich ihnen verbündet wurde, meine Damen und Herren, dann sehen wir: Dietmar Bartsch sollte vielleicht mal mit Friedrich Merz darüber reden, was passiert, wenn man sich mit den Falschen verbündet in diesem Land.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Yvonne Magwas:
Für die Fraktion Die Linke hat nun Janine Wissler das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)