Rede von Julian Pahlke Seenotrettung

Julian Pahlke MdB
19.10.2023

Julian Pahlke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Auf dem Mittelmeer erleben wir täglich die Abwesenheit von europäischen Werten und Menschenrechten. Dieses Jahr wurden diese Grundrechte 2 443-mal missachtet; denn 2 443 Menschen sind ertrunken. Wie oft habe ich solche Sätze schon sagen müssen? Die Zahl der Toten steigt das Jahr über immer weiter an. Jedes Mal sprechen wir von Familien, von Kindern, von Müttern, von Vätern, von Geschwistern und jedes einzelne Mal von Menschen. Alles, was von diesen Zahlen bleibt, sind aufgereihte Leichensäcke und Särge in Turnhallen. Und es wird mir unerklärlich bleiben, wie manche in diesem Moment ernsthaft die Frage stellen können, ob Seenotrettung wirklich nötig ist.

Unsere Aufgabe als Demokratinnen und Demokraten ist, Politik für die Realität zu machen.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Ja! – Josef Oster [CDU/CSU]: Genau! Das machen Sie aber nicht!)

Realität ist, dass dieses Jahr 2 443 Menschen ertrunken sind. Und genau diese Realität wurde in den letzten Jahren ignoriert.

(Stephan Brandner [AfD]: In den letzten zwei Jahren!)

Die vielen Scheinlösungen haben kein bisschen dazu beigetragen, Menschenleben auf dem Mittelmeer zu retten. Die Logik des Lerneffektes, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen und fliehen,

(Dr. Gottfried Curio [AfD]: Die fliehen überhaupt nicht!)

wenn sie sehen, dass viele Tausende im Mittelmeer ertrinken, ist zutiefst zynisch. Weniger Seenotrettung führt nicht zu weniger flüchtenden Menschen, sondern in letzter Konsequenz zu mehr Toten.

Diese Scheinlösungen sind offensichtlich gescheitert.

(Dr. Gottfried Curio [AfD]: Australien zeigt das Gegenteil!)

Deshalb machen wir es jetzt anders und treffen Entscheidungen, die Menschenleben retten und universelle Grundrechte schützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin dankbar, dass wir uns entschieden haben, diese Rechte zu schützen

(Stephan Brandner [AfD]: Recht schützen, das ist immer gut!)

und die zivile Seenotrettung zu unterstützen.

(Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Warum klappt es in Australien?)

Damit setzen wir den Koalitionsvertrag um und unterstützen diejenigen, die sich auf dem Mittelmeer für das Leben von Fliehenden einsetzen, gemeinsam mit den Kirchen und vielen anderen. Eine solche Unterstützung hätte ich mir eigentlich von einer christlichen Partei schon in den letzten Jahren gewünscht.

Wir als Parlament sind gut beraten, auf die Wissenschaft zu hören. Forscher/-innen haben in den letzten Jahren versucht, nachzuweisen, ob Seenotrettung möglicherweise einen Anreiz zur Flucht darstellt. Dieser Nachweis ist keiner einzigen Studie gelungen.

(Stephan Brandner [AfD]: Wer macht denn die Studien?)

Menschen fliehen nicht, um mit viel Glück gerettet zu werden. Menschen fliehen vor Gewalt, vor der Misshandlung in Libyen und Konflikten in ihrem Land. Wenn man Geflüchtete immer noch ein bisschen schlechter behandelt als am Tag zuvor, dann wird dadurch niemand abgeschreckt, aber menschliches Leid aus politischem Kalkül in Kauf genommen. Ganz ehrlich: Das ist einfach pervers.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Seit Jahren wird die zivile Seenotrettung kriminalisiert, mit Dekreten aus Italien überzogen. Dabei sind diese Organisationen zu einem Stellvertreter geworden, an dem sich viele abarbeiten, mittlerweile vor allem die Union, weil sie selber keine funktionierenden Lösungen vorbringen können.

(Detlef Seif [CDU/CSU]: Das haben wir gerade gemacht! – Philipp Amthor [CDU/CSU]: Sie müssen nur zuhören!)

Schauen wir mal, wie viele Menschen durch die zivile Seenotrettung geborgen wurden! Es sind gerade mal 8 Prozent, die Italien lebend erreichen. Dass die italienische Küstenwache und die italienische Finanzpolizei jeden Tag aufs Meer fahren, um Leben zu retten, ist eine große Leistung. Sie tun das, weil es ihre Aufgabe ist, und auch, weil es für sie als Seeleute unerträglich ist, wenn Menschen ertrinken. Dafür verdienen diese Crews unsere große Anerkennung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Das sind ja keine privaten!)

Ich war zugegebenermaßen etwas überrascht, als ich mir den Antrag der Antidemokraten durchgelesen habe; denn mit einer Sache haben sie tatsächlich recht, nämlich mit der Definition von Seenot. Jedes Boot dort draußen im Mittelmeer ist in Seenot. Es erfüllt genau die Kriterien, die Sie in Ihrem Antrag aufschreiben. Und es kann nur eine Schlussfolgerung geben: Menschenleben zu retten. Das entspricht der Einhaltung von Völkerrecht, dem Seerecht und ist praktischer Schutz von Menschenrechten.

(Dr. Gottfried Curio [AfD]: Bloß Verbringung in den nächsten Hafen! Nur darum geht es! Das wissen Sie!)

Die zivile Seenotrettung hat 2015 angefangen, die Lücke zu füllen, die von den EU-Staaten nach dem Ende von Mare Nostrum hinterlassen wurde, mit Spenden, einer breiten öffentlichen Unterstützung, den Kirchen und einem großen Bündnis aus Städten in ganz Europa. Diese zivile Seenotrettung ist eine historische Erfolgsgeschichte, die von einer großen Mehrheit der Gesellschaft mitgetragen wird. Dass wir diese Lücke ein Stück weit mit füllen, ist ebenfalls historisch. Genau deswegen werden wir diese Finanzierung in den nächsten Jahren fortsetzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Herr Kollege Pahlke. – Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lechte, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)