Foto von Filiz Polat MdB
30.11.2023

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Throm, ich dachte, diese Debatten hätten wir wirklich in den 80er- und 90er-Jahren gelassen. Kommen Sie endlich im Einwanderungsland Deutschland an! Es ist wirklich kaum noch zu ertragen. Wenn hier jemand spaltet, dann sind Sie es.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: Und wir dachten, Sie hätten verstanden!)

Meine Damen und Herren, vor 50 Jahren kam eine junge Frau aus der Schwarzmeerregion der Türkei nach Deutschland. Ihr Mann war drei Jahre zuvor als sogenannter Gastarbeiter ins Ruhrgebiet gezogen. Ihr Leben war von Akkordarbeit

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Ich bin jetzt schon gerührt!)

und den gemeinsamen Kindern geprägt. Diese damals junge Frau hat 49 Jahre lang in Deutschland gelebt.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Erst nach 22 Jahren bekam sie die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen – erst nach 22 Jahren! Dieser typische Lebensweg von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern,

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Woran liegt es denn?)

aber auch von Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern sagt viel über die Versäumnisse dieses Landes bei der Anerkennung von Lebensleistungen von Migrantinnen und Migranten aus.

(Konstantin Kuhle [FDP]: Sehr richtig!)

Und das wollen wir besser machen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Bei uns leben aktuell mehr als 11 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. 1,7 Millionen von ihnen haben keinen deutschen Pass, Herr Throm, obwohl sie hier geboren sind. Dieses starke Ungleichgewicht zwischen der Bevölkerung, die hier wohnt, und derjenigen, die wählen darf, erzeugt Gefühle der Ausgrenzung und ist im Übrigen demokratietheoretisch bedenklich – das sagt auch das Bundesverfassungsgericht – und nicht zukunftsfähig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir lassen jeden Tag tausend rein! Das ist unbedenklich?)

Deshalb, meine Damen und Herren, legt diese Koalition jetzt endlich, Frau Ministerin, ein zeitgemäßes Staatsangehörigkeitsrecht für ein modernes Einwanderungsland vor. Wir freuen uns darauf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, mit der ersten großen Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes um die 2 000er-Wende durch die rot-grüne Regierung wurde erstmals breit anerkannt, was heute nur noch verbohrte Ewiggestrige bestreiten: dass Deutschland ein Einwanderungsland ist,

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist die Mehrheit der Deutschen, die das so sieht wie wir!)

ein Land, dessen offene Gesellschaft, Herr Spahn, seine Einheit nur in Vielfalt entfalten kann – schauen Sie mal in die Reihen dieses Parlamentes. Dafür brauchen wir ein zeitgemäßes Staatsangehörigkeitsrecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: Die Mehrheit sieht es anders! Sie regieren gegen die Mehrheit! – Martin Hess [AfD]: Schauen Sie auf die Straße! – Dr. Götz Frömming [AfD]: Schwarz-Rot-Gold ist bunt genug!)

Gleichzeitig liegt jedoch nach wie vor die Einbürgerungsquote in Deutschland im EU-Vergleich weit hinten.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Woran liegt es denn? Wenn nach 20 Jahren nicht eingebürgert wird, gibt es ja Gründe!)

Acht Jahre beträgt bei uns aktuell die Einbürgerungsfrist. Lediglich fünf Jahre sind es dagegen in Großbritannien und in Frankreich, sogar nur drei im Einwanderungsland Kanada. Deshalb ist das ein zentraler Punkt unseres Gesetzentwurfes.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Was ist denn in London los auf den Straßen? 300 000 Israelhasser!)

Und deshalb kürzen wir die Einbürgerungsfristen, während die Voraussetzungen gleich bleiben.

Mit unserer Reform folgen wir einem internationalen Trend und tragen dem Umstand Rechnung, dass wir in einer globalisierten Welt leben.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Die Globalisierung Europas! Das ist Trend!)

Deshalb brauchen wir ein zeitgemäßes Staatsangehörigkeitsrecht, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Till Mansmann [FDP])

Der zweite überfällige Punkt unseres Gesetzentwurfes: Wir werden die Lebensleistung der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter würdigen, indem wir ihre Einbürgerung erleichtern. Und auch hier sagen wir Grüne: Endlich! Und wir werden endlich die Einbürgerung unter der Hinnahme der Mehrstaatigkeit möglich machen. Auch dies ist ein Meilenstein in der Einbürgerungspolitik, die der Lebensrealität vieler Menschen in diesem Land gerecht wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: Ich dachte, Robert Habecks Video hätte irgendeine Folge! Aber es hatte keine!)

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es darf bei Einbürgerungen nicht zu Ungerechtigkeiten kommen. Die Reform – das wird auch gerade vor dem Parlament kundgetan – darf nicht gegen gleichheitsrechtliche Prinzipien verstoßen, zum Beispiel indem sie vor allem Frauen bei der Einbürgerung schlechterstellt. Auch diese Menschen haben oft viel geleistet: Menschen mit Behinderung, Rentner/-innen mit geringer Rente oder Menschen, die unverschuldet arbeitslos geworden sind. Das werden wir in den Beratungen berücksichtigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, heute vor 13 Monaten ist die Frau, von der ich eingangs gesprochen habe, in Solingen verstorben. Ich möchte in dieser Rede gerne an sie erinnern, weil wir von ihr in der Debatte um Zugehörigkeit, um Heimat, um gemeinsame Werte etwas lernen können, Herr Spahn. Ich spreche von der Mevlüde Genç, die vor 30 Jahren im Mai 1993 durch einen feigen rassistischen Mordanschlag auf ihr Haus zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hat. Mevlüde Genç hat durch diesen rechten Terror das Kostbarste, das sie hatte, verloren und hat dennoch nicht mit ihrer neuen Heimat gebrochen. Sie warb um Versöhnung, wurde zur Friedensbotschafterin und mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Dr. Ingeborg Gräßle [CDU/CSU])

Mevlüde Genç war eine Frau, die mehr für dieses Land getan hat als viele, die sich besonders deutsch fühlen.

In diesem Sinne: Ich freue mich auf die Beratungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Für die AfD-Fraktion hat nun das Wort Dr. Gottfried Curio.

(Beifall bei der AfD)