Rede von Sylvia Kotting-Uhl Suizidhilfe

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21.04.2021

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Verehrter Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Mit 68 Jahren bin ich das älteste Mitglied meiner Fraktion, und ich stelle mir Fragen: Wie will ich sterben? Wie will ich leben? Wann will ich nicht mehr leben? Und wenn ich nicht mehr leben will, wie steht mein Staat mir dann gegenüber? Reicht er mir die Hand, oder begrenzt er mich? Schützt er mich vor meinem Willen?

Wir müssen ein neues Gesetz zu genau diesen Fragen machen. Zu dem vom Bundestag in seiner Mehrheit gemachten Gesetz – ich hatte dem Gesetz nicht zugestimmt – hat das Bundesverfassungsgericht Nein gesagt.

Mit einem Gesetz zur Beihilfe zum Suizid sind wir am Kern unserer Verfassung: der Selbstbestimmung. Der Mensch in seiner unantastbaren Würde und Freiheit – das klingt großartig. Dann stehen wir vor dem Spiegel und sehen uns: das kleine Ich, das so abhängig ist von allem um es herum – von Zuwendung, Anerkennung, sozialen Beziehungen. Niemand von uns ist nur ein Selbst. Jeder von uns ist Teil von Gemeinschaft: Familie, Freundschaften, soziale Zusammenhänge, Gesellschaft. Das ist das Selbst.

Was kann Selbstbestimmtheit sein in einer Welt, die bestimmt wird von diesen Abhängigkeiten, von Regeln und Normen, aber auch Unwägbarkeiten? Wo bestimmt sich das Selbst unbeeinflusst? Überfordert uns unser Grundgesetz mit seiner Vorstellung des selbstbestimmten Menschen? Der freie Wille, wann ist er frei, wann unumstößlich? Wie sollen wir das wissen? Auch Wille ist nicht absolut.

Muss also der Staat einen nie als absolut zu betrachtenden Willen eines letztlich nicht selbstbestimmt sein könnenden, weil abhängigen Menschen versuchen, zu verändern, wenn dieser Wille unbegreiflich scheint? Ich halte das für ein Missverständnis. Unser Grundgesetz weiß das alles. Es sieht bei Selbstbestimmtheit nicht Menschen, die unabhängig von ihrer Umgebung ihre Entscheidungen fällen. Es sieht Menschen im sozialen Umfeld, Menschen, die nach Glück streben und die Ängste haben. Ja, auch beim Wunsch nach Suizid spielen Ängste eine Rolle: Angst vor Leiden, vor Autonomieverlust, Angst, eine Last zu sein. Was immer der Staat gegen solche Ängste aufbieten kann, das muss er tun.

Aber Gefühle wie Verlorenheit, Trauer, Angst, Lebensmüdigkeit zu eliminieren, kann nicht gelingen. Sie gehören zu uns Menschen. Wir haben ein Recht auf sie. Selbstbestimmtheit zu erreichen, ist wie reif werden ein Prozess. Unser Grundgesetz gibt uns mit seinen vielfältigen Grundrechten, mit seinem Freiheitsangebot die besten Voraussetzungen für diesen Prozess. Und was immer wir individuell daraus machen: Es passt nicht dazu, ausgerechnet am Ende dieses lebenslangen Prozesses die Freiheit zu beschneiden, dem Menschen abzusprechen, am Ende seines Weges seinen Willen zu kennen.

Unserem einzigartigen Grundgesetz entspricht eine Gesellschaft, in der die Menschen im Rahmen des Gemeinwesens leben dürfen, wie sie wollen, und sterben dürfen, wenn sie wollen. Deshalb muss die Beihilfe zum Suizid geregelt werden, aber nicht im Strafrecht; da gehört sie nicht hin.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN und der Abg. Nicole Westig [FDP])

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Kollegin Kotting-Uhl. – Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt aus der Fraktion CDU/CSU.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)