Rede von Dr. Kirsten Kappert-Gonther Suizidhilfe
Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier und heute treffen wir alle eine sehr weitreichende Entscheidung. Diese wird nicht nur individuell bedeutsam sein, sondern vor allem darüber entscheiden, wie wir künftig als Gesellschaft mit Menschen in Krisen und Grenzsituationen umgehen.
Ich spreche für die Gruppe „Castellucci/Heveling“. Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie habe ich viele suizidale Menschen begleitet. Ich frage mich: Wer von ihnen würde heute nicht mehr leben, wäre der assistierte Suizid als vermeintlich einfache Lösung leichter zu erreichen gewesen als eine Hilfe in Krisen und fürsorgliche Versorgung am Ende des Lebens? Darum habe ich ein großes Unbehagen bezüglich einer staatlich finanzierten Suizidberatungsinfrastruktur, wie sie von der anderen Gruppe vorgeschlagen wurde.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der AfD und der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE])
Der Ausbau der Suizidprävention ist elementar. Ich bin froh, dass es uns, den beiden Gruppen, gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zur Prävention vorzulegen. Ich hoffe sehr, dass dieser Antrag zur Stärkung der Prävention die Zustimmung von Ihnen allen hier in diesem Hause bekommt. Das wäre ein sehr starkes Zeichen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der AfD und der LINKEN)
Lassen Sie mich nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf drei zentrale Punkte zu unserem Gesetzentwurf eingehen. Braucht es überhaupt ein Gesetz? Ja; denn aktuell finden in Deutschland Suizidassistenzen statt, ohne klare Regeln und immer häufiger auch in Pflegeheimen. Für Menschen, die ein soziales Netz haben und gut situiert sind, bräuchte es vielleicht kein Gesetz; aber für vulnerable Menschen, die einsam, arm und in existenziellen Krisen sind, für Menschen, die keine adäquate Pflege finden oder psychisch krank sind, braucht es ein Schutzkonzept, einen sicheren Schutz vor Drucksituationen, um ihre Autonomie zu sichern. Das ist auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Sehr viele Menschen haben in ihrem Leben suizidale Phasen. Suizidalität entsteht immer im Kontext der Lebenssituation. Auch Liebeskummer kann zu Suizidgedanken führen. Eine einmalige Beratung und nur drei Wochen Wartefrist reichen hier nicht aus.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Es braucht ein Schutzkonzept, das sicherstellt, dass ein Suizidwunsch freiverantwortlich und von Dauer ist. Die Sicherung der Selbstbestimmung ist die zentrale Aufgabe der gesetzlichen Regelung.
Passen denn nun Selbstbestimmung und Strafrecht zusammen? Wir sagen ganz klar: Kein suizidaler Mensch macht sich strafbar; kein Mensch, der Hilfe zum Sterben in Anspruch nimmt, macht sich strafbar. Strafbar aber macht sich, wer andere zum Suizid drängt. Strafbar machen sich Anbieter geschäftsmäßiger Sterbehilfe, die das Schutzkonzept nicht einhalten und so die Selbstbestimmung gefährden.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der AfD und der LINKEN)
Manche fragen sich, ob eine fachliche psychiatrische und psychotherapeutische Einschätzung nicht etwa paternalistisch sei. Gespräche mit Psychiaterinnen und Psychiatern sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eröffnen einen Gesprächsraum, der Betroffenen ermöglicht, tabufrei über ihre Gefühle zu sprechen, Motive zu erkennen und sich über Alternativen zu informieren. Das sichert die Selbstbestimmung.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der AfD und der LINKEN)
Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die Bundesärztekammer deutlich kritisiert, dass in dem Gesetzentwurf der anderen Gruppe nichts zur Qualifikation der Beratung festgelegt ist. Suizidale Gefühle sind komplex; sie sind ambivalent und meistens volatil. Fachärztinnen und Fachärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeutinnen verfügen über die Qualifikation, solche Gespräche zu führen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Wie soll denn ein Stempel vom Amt, den ein Sachbearbeiter einer Behörde ausstellt, wie es von der anderen Gruppe in bestimmten Situationen vorgesehen ist, der Tragweite einer solchen Entscheidung gerecht werden?
Als Gesellschaft, als Staat dürfen wir nicht das Signal senden, irgendein Mensch sei überflüssig oder sein Tod sei keine große Sache. Unser Signal ist: Wir respektieren jede Person mit Suizidgedanken. Wir ermöglichen den Zugang zum assistierten Suizid, wie uns vom Verfassungsgericht aufgetragen; aber wir fördern ihn nicht. Wir als Gesellschaft, wir als Vertreterinnen und Vertreter des Staates geben niemanden vorschnell auf, und darum bitte ich Sie, sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie für den Gesetzentwurf „Castelucci/Heveling“.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Präsidentin Bärbel Bas:
Nächste Rednerin: Dr. Nina Scheer für die Gruppe „Helling-Plahr, Künast und andere“.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)