18.01.2019

Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Wohnen ist ein Menschenrecht. Ein Dach über dem Kopf zu haben, einen Schutzraum, ein vertrautes Umfeld, ist etwas, das jedem Menschen zustehen sollte. Wohnen wird aber in der Tat für immer mehr Menschen mit keinem oder mit geringem Einkommen zur Existenzfrage. Deswegen bin ich sehr froh über die Debatte heute. Ich beginne mit zwei Beispielen aus dem Leben.

Ein junger Mann aus Dresden hat eine Ausbildung zum Dachdecker wegen Höhenangst abgebrochen. Nach einer ersten Sanktion durch das Jobcenter hat er die Auflage, eine Helfertätigkeit anzunehmen, abgelehnt, da er lieber eine andere Ausbildung beginnen wollte. Nach einer Spirale von Sanktionen wohnt er mittlerweile in der Obdachlosenunterkunft und lebt von Lebensmittelgutscheinen.

Beispiel zwei, über das kürzlich „Panorama“ berichtet hat: Ein ehemaliger Fitnessstudiobesitzer erlitt eine Erschöpfungsdepression. Immerhin konnte er sich mithilfe eines Minijobs noch einigermaßen über Wasser halten, hat aber dann Termine beim Jobcenter versäumt, sodass auch seine Grundsicherung bis hin zur Totalsanktion gekürzt wurde. Danach hat er hohe Mietschulden angehäuft, und ihm wurde schließlich fristlos von seinem Vermieter gekündigt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Staat, der die Würde des Menschen achten muss, der versagt an der Stelle, wo er Wohnungslosigkeit nicht verhindert, sondern Wohnungslosigkeit mit seinen Gesetzen herbeiführt. Und das kann nicht sein!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

In dieser Woche hat das Bundesverfassungsgericht sich intensiv mit der Frage des Existenzminimums in der Grundsicherung auseinandergesetzt. Ich bin sehr gespannt auf das Urteil. Wenn die Bundesregierung verantwortlich handeln will, dann lässt sie sich nicht von einem Gericht zwingen, sondern dann legt sie jetzt selber einen Gesetzentwurf vor, der mindestens die Sanktionen auf Kosten für Unterkunft und Heizung abschafft. Es geht um existenzielle Notlagen, in die Menschen getrieben werden, und das ist eines Sozialstaates unwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

In den öffentlichen Debatten zu Hartz IV wird oft übersehen, dass das Existenzminimum, also das, worauf jeder Mensch ein Anrecht hat, neben dem Geld zum Lebensunterhalt erst mit einem Dach über dem Kopf gesichert ist. Und hier haben wir in der Tat ein großes Problem: Das SGB II sagt, dass die Kosten dafür in angemessener Höhe übernommen werden müssen. „Angemessenheit“ ist aber erstens ein unbestimmter Rechtsbegriff. Und zweitens hat der Gesetzgeber die Verantwortung für die Sicherstellung dieses Existenzminimums letztlich an die Kommunen delegiert, das aber in einem völlig unsicheren Rechtsrahmen. Die Kommunen sind nämlich aufgefordert, die Angemessenheitsgrenze selber festzulegen. Gerade in den Ballungsräumen ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt sehr angespannt – das wissen alle –, die Haushaltssituation der Städte und Gemeinden aber eben auch.

Was passiert nun? Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die zu niedrigen Angemessenheitsgrenzen führen dazu, dass Menschen in Hartz IV immer öfter ihre Wohnung mithilfe ihres Regelsatzes finanzieren müssen. Das heißt im Klartext: Wenn die Wohnkosten nicht vollständig getragen werden, müssen Menschen bei Lebensmitteln sparen, bei Körperpflege sparen oder bei anderen Mitteln des täglichen Bedarfs. Das betrifft mittlerweile jede fünfte Bedarfsgemeinschaft. Einem Fünftel aller Bedarfsgemeinschaften wird so das Existenzminimum entzogen, und das ist ein sozialpolitischer Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Was also müssen wir tun? Erstens. Wir brauchen natürlich mehr bezahlbaren Wohnraum. Jedes Jahr gibt es weniger Sozialwohnungen. Das ist eine dramatische Entwicklung. Im selben Zeitraum sind die Kosten der Unterkunft aber massiv explodiert.

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Die sind doch nicht explodiert, Herr Kollege!)

Das zeigt die gesamten Verfehlungen der Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte auf. Während der Staat sich aus der Verantwortung für mehr bezahlbaren Wohnraum immer mehr zurückgezogen hat, mussten die Städte und Gemeinden immer mehr Geld ausgeben, um Wohnen überhaupt noch zu ermöglichen. Genau diesen Trend müssen wir endlich stoppen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht, Herr Kollege! Wir geben doch jetzt extra 2 Milliarden mehr aus für den sozialen Wohnungsbau!)

– Entschuldigung, aber Sie wissen doch genau, dass der Bund zwar seinen Anteil erhöht hat, aber die Kosten für Unterkunft trotzdem explodiert sind. Das ist das, was ich gesagt habe.

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Die sind nicht explodiert! Nein, sind sie nicht!)

Sie müssen mal in die Zahlen schauen.

Zweite Maßnahme: Das Wohngeld muss gestärkt werden. Das Wohngeld ist eine sehr wichtige Leistung; denn es kann als Zuschuss zu den Mietkosten verhindern, dass Menschen wegen zu niedrigem Einkommen überhaupt in den Bezug der Grundsicherung fallen. Diese Leistung wird aber noch zu wenig in Anspruch genommen. Von daher ist es grundfalsch, dass die Große Koalition im Haushalt für 2019 die Mittel dafür gekürzt hat. Schaffen Sie endlich eine Dynamisierung des Wohngeldes, sodass weniger Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Die Kosten der Unterkunft müssen in voller Höhe erstattet werden. Die Angemessenheitsgrenzen müssen sich deutlich stärker an den Entwicklungen auf den Wohnungsmärkten orientieren und zum Beispiel Angebotsmieten berücksichtigen. Die sogenannten schlüssigen Konzepte müssen gerade in Regionen mit Wohnungsmangel häufiger aktualisiert werden. Ich denke, wir kommen auch da um eine Gesetzesänderung im SGB II nicht herum.

Viertens. Sanktionen auf die Kosten für Unterkunft und Heizung – das ist jetzt schon öfter gesagt worden – müssen endlich abgeschafft werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Wir dürfen einfach nicht zulassen, dass Menschen in Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit getrieben werden und auf der Straße landen. Es ist übrigens auch für die Gesellschaft viel, viel teurer, Wohnungslosigkeit wieder zu überwinden – durch Notschlafstellen, durch Kältehilfen, durch Beratungsstellen –, als Wohnungslosigkeit überhaupt erst entstehen zu lassen.

Ich hoffe, dass wir Wohnen als ein Menschenrecht endlich ernst nehmen und für alle verwirklichen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)