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13.10.2022

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Sommer 2020 reichten neun behinderte und chronisch kranke Menschen Beschwerde beim

Bundesverfassungsgericht ein, weil sie befürchteten, im Fall einer Triage wegen ihrer Behinderung oder Vorerkrankung nicht intensivmedizinisch behandelt zu

werden. Sie argumentierten, der Gesetzgeber müsse seiner Schutzpflicht nachkommen und gesetzliche Regeln erlassen, um sicherzustellen, dass Menschen mit

Behinderungen in einem Triage-Fall nicht benachteiligt werden.

Ich möchte erinnern: Wir alle standen zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss der Bilder aus Bergamo, von den Militärkonvois mit den Leichen, die in

Krematorien geschafft wurden. Viele von uns stellten sich damals die Frage, ob auch wir in Deutschland in die Situation kommen könnten, alte und behinderte

Menschen gar nicht erst zu behandeln. Ich kann für mich antworten und sagen: Für mich war das unvorstellbar. Denn wir haben unser Grundgesetz, und das stellt

doch eindeutig klar, dass das Leben eines jungen oder nicht behinderten Menschen nicht mehr wert ist als das eines alten oder behinderten Menschen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Heute wissen wir, dass es sehr wohl auch bei uns in Deutschland gravierende Engpässe bei der Versorgung von Coronapatientinnen und ‑patienten gegeben

hat. Dort, wo die Inzidenzen besonders hoch waren, wurden insbesondere alte, aber auch jüngere behinderte Menschen nicht mehr im Krankenhaus behandelt. Wir

wissen von Fällen, wo Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Behindertenhilfe gebeten wurden – ich zitiere – „Krankenhauseinweisungen besonders sorgfältig zu

bedenken“. „Triage vor der Triage“ oder „graue Triage“ nennt man das.

Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, weil das Bundesverfassungsgericht den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern – glücklicherweise –

weitgehend gefolgt ist. Das Gericht hat uns dazu verpflichtet, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen zu treffen. Die Stärke des

Schutzauftrags ist sehr groß, den wir als Gesetzgeber vollumfänglich zu erfüllen haben. Es werden tiefgreifende ethische Fragen berührt, die beim besten Willen

nicht allein aus einer medizinischen Perspektive beantwortet werden können. Schon für sich genommen erfordern diese eine umfassende und gründliche

gesellschaftliche Diskussion. Und ebendiese Diskussion hat bisher leider nicht stattgefunden.

Gewichtige Fragen liegen vor uns. Diese Fragen haben eine Bedeutung weit über die Pandemie hinaus:

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ist der Gesetzentwurf überhaupt dazu geeignet, einen gleichberechtigten Zugang zu überlebensnotwendigen intensivmedizinischen Behandlungen zu

gewährleisten? Oder ist das in dieser Form formulierte Kriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ möglicherweise von vornherein

immanent diskriminierend?

(Beifall des Abg. Ates Gürpinar [DIE LINKE])

Und wie kann gewährleistet werden, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung im Krankenhaus für alle Menschen gesichert wird und eine sogenannte

Vor-Triage auch in Zukunft ausgeschlossen wird?

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Gerne. – Ich bin gespannt auf die Beratungen, die jetzt folgen werden. Wir als Parlament, wir als Gesetzgeber tragen richtig Verantwortung. Ich bin

mir sicher, dass wir dem am Ende auch gerecht werden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Die letzte Rednerin in der Debatte ist für die CDU/CSU-Fraktion Simone Borchardt.

(Beifall bei der CDU/CSU)