Rede von Canan Bayram Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

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11.05.2022

Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Therapie statt Strafe: Das ist der Grundsatz, der mit § 64 ff. im Strafgesetzbuch geregelt ist. Das heißt, suchtkranke Menschen gehören nicht ins Gefängnis, sondern in eine Entziehungsanstalt; denn Sucht ist häufig ein Auslöser für die Begehung von Straftaten. Das sollten wir vielleicht mal voranstellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wenn eine Person mit Suchterkrankung einfach ins Gefängnis gesteckt wird, dann wird dadurch nur das Symptom bekämpft, aber nicht die Ursache. Das heißt, der- oder diejenige kann dadurch leicht in einem Teufelskreis von Sucht, Kriminalität, Verurteilung, Gefängnis und wieder Sucht stecken bleiben. Und weil im Gefängnis das Problem nicht gelöst wird, geht es nach der Freilassung wieder von vorne los. Deswegen werden richtigerweise nach § 64 Strafgesetzbuch Personen, die einen Hang zu berauschenden Mitteln haben, vom Gericht zur Behandlung in einer Entzugsklinik oder in einer Entziehungsanstalt untergebracht

In den letzten Jahren hat es sich tatsächlich so entwickelt, dass die Zahl der Personen in Entziehungsanstalten immer weiter gestiegen ist. Und weil die Entziehungsanstalten dadurch an ihre Grenzen – insbesondere der Kapazitäten – gekommen sind, wurde vor etwa drei Jahren eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gegründet, um Lösungen für diese Probleme zu finden. Im Januar dieses Jahres hat diese Arbeitsgruppe ihre Ergebnisse vorgestellt. Aus ihrem Bericht geht hervor, dass sich die Zahl der untergebrachten Personen in dem Zeitraum 2002 bis 2019 tatsächlich mehr als verdoppelt hat. Deswegen macht sie Vorschläge, mit welchen Gesetzesänderungen die Zahl der Untergebrachten verringert werden soll.

Im Wesentlichen sollen mit einer engeren Fassung des § 64 Strafgesetzbuch die Kliniken entlastet werden. Der Gesetzentwurf der Unionsfraktion greift diesen Vorschlag auf. Also, vielen Dank erst mal an die CDU/CSU-Fraktion, dass sie den Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe – wollen wir fair bleiben – in großen Teilen kopiert hat.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Großen Teilen!)

Wir haben diesen Bericht natürlich auch gelesen und prüfen ihn intensiv; denn im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, dass wir das Sanktionssystem insgesamt – der Maßregelvollzug ist ein Teil dessen – in den Blick nehmen wollen, und wir wollen das Ganze überarbeiten.

Für eine umfassende Reform reicht es eben nicht, nur aus der Perspektive der Länder die Missstände zu benennen, sondern wir müssen die einzelnen Stellschrauben in den Blick nehmen und tatsächlich schauen: Was können wir von der Bundesebene aus verändern? – Wir brauchen ein Gesamtkonzept, bei dem Prävention und Resozialisierung im Fokus stehen. Das ist für uns Grüne außerordentlich wichtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Denkbar wäre, die Kapazitäten der Einrichtungen zu erhöhen. Aber reicht das? Ein anderer Vorschlag sieht vor, die Unterbringung davon abhängig zu machen, ob der oder die Betroffene ihr tatsächlich zustimmt.

Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie hat einen Vorschlag vorgelegt, der eine komplette Transformation der Maßregeln vorsieht. Auch diesen Vorschlag müssen und wollen wir uns gemeinsam genauer anschauen; denn im Mittelpunkt unserer Überlegungen muss immer stehen, wie wir dadurch zu Prävention und Resozialisierung beitragen können, weil es nichts bringt, wenn die Entziehungsanstalten wieder viele freie Plätze haben, es dadurch aber immer mehr Straftaten durch rückfällige Menschen gibt. Das kann nicht der Sinn dessen sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen wollen wir es genauer prüfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wir können es nicht riskieren, dass tatsächlich behandlungsbedürftige straffällige Menschen nicht behandelt werden – entweder weil die Kliniken überfüllt sind oder weil sie ins Gefängnis gesteckt werden. Beides müssen wir als Risiko im Blick behalten.

Klar ist: Der Justizvollzug allein kann nicht die Lösung sein. Der Grundsatz „Therapie vor Strafe“ darf nicht aufgeweicht werden. Wir brauchen eine Strategie, um den Betroffenen angemessen zu helfen. Dazu gehört auch, dass es die Möglichkeit geben muss, suchtkranken Menschen im Justizvollzug Zugang zu Substitutionsbehandlungen zu ermöglichen.

Auf der anderen Seite dürfen wir diejenigen, die wegen einer Suchterkrankung von einer Maßregel betroffen sind, in den Einrichtungen nicht vergessen. Wenn das Gericht nach sechs Monaten prüft, ob die weitere Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt wird, sollte den Betroffenen ein Rechtsbeistand zur Seite gestellt werden. Dies ist leider immer noch nicht geregelt, obwohl gerade bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder einer psychiatrischen Einrichtung in der Regel klar ist, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, sich selbst zu verteidigen. Das ist auch ein Aspekt, den wir gemeinsam betrachten sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen – darin scheinen wir uns fraktionsübergreifend alle einig zu sein –, so wie es ist, kann es nicht bleiben. Deswegen werden wir als Ampelkoalition gemeinsam das Sanktionensystem evidenzbasiert auf den Prüfstand stellen und dann als Fortschrittskoalition ein schlüssiges Gesamtkonzept vorstellen. Da freuen wir uns auf jeden wertvollen Beitrag, auch aus der Opposition.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ates Gürpinar, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)