Rede von Nina Stahr Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige

Nina Stahr
01.12.2022

Nina Stahr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat ja schon etwas Ironisches, dass wir abends um diese Uhrzeit über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sprechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Aber ehrlicherweise ist das auch folgerichtig. Ich weiß, dass da draußen gerade jede Menge Eltern noch am Schreibtisch sitzen, um wenigstens die allerwichtigsten Mails noch abzuarbeiten, nachdem sie mal wieder mit ihrem kranken Kind den ganzen Tag zu Hause verbracht und Sorgearbeit geleistet haben – all das unentgeltlich.

Was wäre eigentlich, wenn nicht ständig eine Person kochen, putzen und Kinder großziehen würde, also unentgeltlich Sorgearbeit leisten würde? Laut der Schätzung des Statistischen Bundesamtes beträgt der Wert der unbezahlten Sorgearbeit in Deutschland 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Es ärgert mich, dass gerade vor diesem Hintergrund die Unterstützung von Familien von vielen immer noch nicht als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Alle nicken dann immer. Aber fragen Sie doch mal junge Väter, wie der Arbeitgeber, die Kolleginnen und Kollegen oder teilweise sogar die eigenen Eltern reagieren, wenn junge Väter sagen: Ich möchte Elternzeit nehmen, womöglich sogar mehr als die zwei üblichen Vätermonate. – Deshalb ist es nach wie vor so, dass gerade für junge Frauen die Familiengründung immer noch das größte Risiko für Altersarmut ist. Erwerbsbiografie und Gehalt knicken für Frauen immer nach unten ab, sobald sie Kinder bekommen; denn es sind leider immer noch vor allem die Frauen, die ab der Geburt des ersten Kindes zu Hause bleiben und danach häufiger in Teilzeit arbeiten. Die Folge ist bekannt: Frauen landen häufiger in Altersarmut.

Junge Paare sind da schon viel weiter. Sie wollen sich die Sorgearbeit partnerschaftlich aufteilen. Sie wollen nicht, dass Sorgearbeit zur Falle für die Frauen wird. Deshalb setzen wir als Ampel beim Knackpunkt Familiengründung an. Wir setzen dazu heute in einem ersten Schritt die EU-Vereinbarkeitsrichtlinie um und erreichen damit wichtige Verbesserungen für die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Pflege.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Besonders freue ich mich, dass Eltern sich jetzt auch an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden können. Wie wichtig das ist, zeigt eine Befragung der Antidiskriminierungsstelle: 40 Prozent der Eltern geben an, aufgrund der Tatsache, dass sie beispielsweise für die Kinderbetreuung mal früher nach Hause gehen müssen, diskriminiert zu werden. Auch das zeigt wieder: Vereinbarkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dass Sie als CDU das jetzt nicht unterstützen wollen, irritiert mich, ehrlich gesagt. Wie kann man denn ernsthaft dagegen sein, diskriminierte Eltern zu unterstützen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Aber wir machen hier nicht halt. Wir werden im nächsten Schritt die zweiwöchige Freistellung nach der Geburt für den zweiten Elternteil im Mutterschutzgesetz verankern. Uns ist wichtig, dass Partner/-innen direkt nach der Geburt zwei Wochen bezahlt von ihrer Arbeit freigestellt werden, damit sie in den ersten Tagen, die so wichtig sind, zum einen die Mutter voll unterstützen können, aber zum anderen auch eine enge Beziehung zum Kind aufbauen können.

Uns ist wichtig, die vereinbarten Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag für mehr Partnerschaftlichkeit, für mehr Geschlechtergerechtigkeit und damit für eine progressive Gesellschaft umzusetzen. Aus diesem Grund möchten wir heute für Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf werben. Ich danke ausdrücklich dem Ministerium für dieses Gesetz und für die Ankündigung der zweiwöchigen Partner/-innenfreistellung für mehr Partnerschaftlichkeit in der Familienarbeit.

(Enrico Komning [AfD]: Partner/-innenschaft!)

Klar bleibt aber auch: Das sind nur Schritte auf einem insgesamt noch sehr weiten Weg hin zu echter Vereinbarkeit. Diesen Weg kann das Familienministerium nicht alleine gehen. Echte Vereinbarkeit muss von der gesamten Gesellschaft getragen werden. Arbeitgeber/-innen, Wirtschaftsverbände, wir alle müssen dafür an einem Strang ziehen. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was wäre in dieser Gesellschaft möglich, wenn wir das endlich wirklich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstehen würden?

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Astrid Timmermann-Fechter und Sarah Lahrkamp geben ihre Reden zu Protokoll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Als Nächstes folgt Martin Reichardt für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)