Rede von Lamya Kaddor Wahlen zum Europäischen Parlament
Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben unserem Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vieles zu verdanken, zuvorderst Frieden. Leider scheinen die Errungenschaften für viele Menschen so selbstverständlich geworden zu sein, dass sie sie nicht mehr zu schätzen wissen. Wenn man sich in der Welt umschaut, trifft man überall auf wachsende Zustimmung für reaktionäre, rechtsnationalistische und extremistische Bewegungen in Politik und Gesellschaft. Wir steuern auf massive Auseinandersetzungen zu, in denen nicht mehr das Argument zählt, sondern die Identität derjenigen, die das Argument vortragen. Wer die falsche Identität hat, hat also immer unrecht.
In dieser Zeit ist es umso wichtiger, die europäische Identität zu stärken; denn europäische Identität bedeutet Vielfalt. Und Vielfalt ist die Maxime des 21. Jahrhunderts, um nicht zu sagen: Vielfalt ist die Maxime für das Überleben der Menschheit in einer globalisierten Welt.
(Zuruf von der AfD)
Ein Europa, das wieder in einzelne Nationalstaaten zurückfällt, wird all das Erreichte aus den letzten 70 Jahren in Gefahr bringen und damit unsere Zukunft, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Apropos „in Nationalstaaten zurückfallen“: Die Bundestagsfraktion der Union hat gestern anlässlich des Gedenkens an 74 Jahre Grundgesetz ein Programm für Patriotismus gefordert: mehr Fahnen in der Öffentlichkeit, mehr Nationalhymne, einen nationalen Gedenktag. Aber Sie machen immer und immer wieder die gleichen Fehler: Leitkultur, deutsche Hausordnung, die Kehrwoche – mal gucken, was noch kommt. Sie setzen auf mehr Symbolik des Nationalen statt auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Herausforderungen. Wir brauchen nicht weiter Trennendes, wir brauchen Verbindendes, vor allem für uns in Europa.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Also Schwarz-Rot-Gold trennen, ja?)
Wir machen uns stark für transnationale Listen. Wer auf diesem Wege gewählt wird, ist eben nicht nur dem eigenen Staat, der eigenen Nation verpflichtet, sondern Europa als Ganzem. Daher fordert der entsprechende Antrag die Bundesregierung auf, die Schaffung eines unionsweiten Wahlkreises zusätzlich zu den nationalen Wahlkreisen durchzusetzen, indem zusätzliche Mitglieder über transnationale Listen gewählt werden sollen. Für die Zusammensetzung der Listen gilt es dann, die verfassungsrechtlichen Vorgaben der jeweiligen Mitgliedstaaten zu wahren. Hier sind besonders Geschlechterquoten sicherzustellen. Sorgen vor einem etwaigen Machtverlust der Nationalstaaten sind hier absolut unbegründet. Gerade unser föderales System in Deutschland zeigt doch, dass es genügend, mitunter sogar zu viele Möglichkeiten der Gestaltung gibt, unabhängig von der Bundesebene.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in einer multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts kann Europa auf Dauer nur existieren, wenn es enger zusammenrückt. Wir sind gerade dabei, zu lernen, wie schwierig es ist, international Politik zu machen. Große Nationen wie Indien, Brasilien, Indonesien, viele afrikanische Staaten gehen ihren Weg. Sie fragen nicht mehr in Europa nach, ob sie einen Passierschein bekommen. Auch kleinere Staaten lassen sich nichts mehr von Europa diktieren. Im Zweifelsfall wenden sie sich an China und Russland, wie das schmerzhafte Beispiel Iran oder zum Beispiel der Konflikt im Sudan zeigt. Die EU-Staaten allein haben in dieser multipolaren Welt wenig Handlungsspielraum, wie übrigens Großbritannien nach dem nationalistischen Coup, genannt Brexit, gerade erleben muss. Wir werden uns nur als starker Verbund von Staaten behaupten können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wie wichtig es ist, die Europawahlen den Bürgerinnen und Bürgern nahezubringen, zeigt im Übrigen eine Studie aus dieser Woche – eine erschreckende Studie aus dieser Woche. In Thüringen geben laut der Universität Jena nur noch 48 Prozent der Menschen an, mit der aktuellen Praxis der Demokratie zufrieden zu sein. Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: 48 Prozent. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber dieses Ergebnis sollte uns nicht mehr nur besorgen. Ausgerechnet in Deutschland, wo die Demokratie so hart, so blutig, so verlustreich und letztlich nur mit massivem Druck von außen erkämpft worden ist, ausgerechnet in einem Land, das weltweit für seinen hohen Lebensstandard, seinen Wohlstand, seine wirtschaftliche Stärke und sein funktionierendes politisches System gelobt wird – ausgerechnet hier sind an manchen Orten mehr als die Hälfte der Menschen von der Demokratie enttäuscht?
Wenn wir an dieser Stelle nicht besonders aufmerksam sind, dann wachen wir eines Morgens in einem Land auf, in dem keiner von uns Demokratinnen und Demokraten mehr leben möchte. Wir müssen solche Entwicklungen im Blick haben. Wir müssen gemeinsam handeln. Ein Stellrad dafür sind gerade auch die europäischen Strukturen. Europa steht für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, für Freizügigkeit, für Vielfalt. Diese europäischen Werte gilt es zu stärken, auch wenn es einigen nicht gefällt. Und es muss um mehr Europa gehen und nicht um weniger, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion folgt daher der Beschlussempfehlung des Ausschusses und nimmt unsere Bundesregierung damit in die Pflicht.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort Tobias Winkler.
(Beifall bei der CDU/CSU)