Rede von Dr. Till Steffen Wahlrechtsreform

Dr. Till Steffen
27.01.2023

Dr. Till Steffen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute hier im Deutschen Bundestag, weil wir als Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP einen Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlrechts auf den Tisch des Hauses gelegt haben. Dieser Gesetzentwurf ist einfach und fair. Er ist einfach, weil er die Benennung der Stimmen klarzieht: Künftig wird mit der Hauptstimme entschieden über die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag. Je mehr Hauptstimmen eine Partei erhält, desto mehr Sitze erhält sie im Deutschen Bundestag. 598 Abgeordnete kommen bei jeder Wahl heraus; da gibt es keine Abweichung. Die Hauptstimme entscheidet dann also darüber, wie viele Mandate jede Partei im Deutschen Bundestag exakt erhält.

Die Verteilung auf die Bundesländer ist auch festgelegt; sie ergibt sich aus der Zahl der abgegebenen Stimmen in den jeweiligen Bundesländern. Danach wird bestimmt, wie die Sitze der Parteien auf die Bundesländer verteilt werden. Also gibt es gar keine Abweichung zulasten oder zugunsten einzelner Bundesländer. Das ist anders als im jetzigen Bundestagswahlrecht, wo es durch Überhangmandate in einem Bundesland – das ist zum Beispiel bei der CDU in Baden-Württemberg häufiger vorgekommen – weniger Abgeordnete der CDU aus anderen Bundesländern gegeben hätte, als es dem Anteil an Wählerstimmen entsprochen hätte. Also, das ist an der Stelle ein ganz einfaches und klares System.

Bei der Frage „Wer wird es dann aus den Bundesländern?“ haben die Abgeordneten, die in den Wahlkreisen angetreten sind, den Vorrang; sie sind nach dem Stimmverhältnis als Erste dran, und dann kommen die Kandidatinnen und Kandidaten von der Liste. Das ist schon das ganze Wahlrecht, das wir vorschlagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Es ist auch fair. Es ist fair, weil wir sehr genau darauf geachtet haben, dass wir bei jeder Veränderung, die wir vornehmen, die Wettbewerbschancen der Parteien, die heute im Deutschen Bundestag vertreten sind, nicht verändern; sie bleiben exakt gleich.

(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Dieses Anliegen, das wir mit unserem Vorschlag verfolgen, ist uns sehr wichtig. Deswegen ist das klare Markenzeichen unseres Vorschlages: einfach und fair.

Jetzt kommen wir zu den Ideen der CDU/CSU; die sind nämlich weder einfach noch fair.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Aha!)

Sie sind offenbar so kompliziert, dass es Ihnen nicht mal gelungen ist, Ihre Vorschläge in Form eines Gesetzesvorschlages hier auf den Tisch des Hauses zu legen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Seit einem Jahr arbeiten wir intensiv und engagiert in der Wahlrechtskommission; das fand ich hochinteressant und wertvoll. Da frage ich mich: Warum haben Sie die Zeit nicht genutzt,

(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

zusammen mit Ihren Expertinnen und Experten einen Gesetzentwurf zu entwickeln? Das scheint schwierig zu sein bei Ihren Vorschlägen. Was haben Sie jetzt hier vorgelegt? Eine Selbstverpflichtung des Deutschen Bundestages.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Sie haben doch Kompromissgespräche gewünscht!)

Sie schlagen vor, heute hier zu beschließen, dass wir uns selbst verpflichten. Wissen Sie, was passiert, wenn wir das beschließen? Nichts! Es passiert gar nichts.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Es ist wirklich absolutes Windowdressing, dass Sie einfach ein bisschen so tun, als würde man was am Wahlrecht ändern. Wenn wir das beschließen, was Sie heute beantragt haben, passiert einfach gar nichts.

(Christina Stumpp [CDU/CSU]: Stimmt nicht! – Philipp Amthor [CDU/CSU]: Völlig unsachlich! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist doch unter Ihrem Niveau, was Sie da sagen!)

Wenn wir jetzt in der Wahlrechtskommission neu anfangen würden, würden wir auf Basis dessen, was Sie vorgelegt haben, einen Gesetzentwurf entwickeln; eigentlich wollten wir heute so weit sein. Schauen wir uns jetzt die Punkte, die ja unterschiedlich zu beurteilen sind, Ihres Vorschlages an: Sie schlagen vor, die Zahl der Wahlkreise auf 270 abzusenken. Das ist ein Vorschlag, über den man reden kann, natürlich. Wir haben in der letzten Wahlperiode mit den Linken und der FDP 250 Wahlkreise vorgeschlagen. Das kann man machen; das hat eine relative Wirkung. Wir haben mal anhand Ihres Vorschlages gerechnet: 270 Wahlkreise statt 299 Wahlkreise, was erreicht man? Ungefähr 30 Abgeordnete weniger. Das ist also nicht wirklich die Lösung des Problems.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Dietrich Monstadt [CDU/CSU]: Sie sind doch noch gar nicht fertig! – Zuruf des Abg. Philipp Amthor [CDU/CSU])

Jetzt kommt der zweite Punkt – der ist ja so spannend –: Die Überhangmandate sollen nicht mehr ausgeglichen werden. Die 15 Überhangmandate, die Sie maximal kriegen könnten, werden nicht mehr ausgeglichen. Das kann zu einer dramatischen Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse führen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Der Wähler entscheidet!)

Dadurch ist es möglich, dass eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in diesem Lande sich als Minderheit in diesem Parlament wiederfindet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das ist der Punkt, an dem ich sage: Ihr Vorschlag ist nicht fair. – Das ist ein Pfad, auf den wir uns nicht begeben sollten. Das ist ein Pfad, der uns an das erinnert, was in den USA leider schon länger gang und gäbe ist: das sogenannte Gerrymandering, also das Zuschneiden von Wahlkreisen nach gewünschten Mehrheitsverhältnissen. Das erinnert uns an eine Situation, die natürlich im amerikanischen System angelegt ist: dass die Mehrheit im Volk den einen Kandidaten wählt, aber der andere Präsident wird. Das ist doch kein sinnvoller Beitrag zu mehr Demokratie, sondern das ist ein Beitrag, dessen Umsetzung dazu führen würde, dass die Leute sich von der Demokratie entfremden, wenn das das Ergebnis ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Besonders deutlich wird es dann bei Ihrem dritten Vorschlag, nämlich die Grundmandatsklausel zu verändern. Das ist ja die Klausel, die dafür sorgen soll, dass regional starke Parteien trotz Unterschreitens der 5-Prozent-Hürde im Parlament sind. Wir haben ja zwei Parteien hier im Parlament, die nah an der 5‑Prozent-Hürde waren: die Linkspartei knapp darunter, die CSU knapp darüber.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Jetzt wird es interessant: Die Linkspartei ist dank der Grundmandatsklausel – weil sie drei Direktmandate erzielt hat – hier im Deutschen Bundestag vertreten. Das ist der Sinn dieser Klausel. Die CSU wäre darauf auch angewiesen, wenn sie gerade so unter den 5 Prozent landen würde. Also, ein paar Prozentpunkte weniger, und Sie wären auch darauf angewiesen, dass die Grundmandatsklausel für Sie greift. Für Sie würde nach Ihrem Vorschlag dann künftig gelten: Fünf Grundmandate; das soll dann reichen. Also: Die Linkspartei wird durch Ihren Vorschlag rausgeschoben, für die CSU gibt es eine „Überlebensrettungsklausel“. Das kann doch eigentlich kein fairer Vorschlag sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Das Gegenteil ist der Fall! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Das markiert wirklich in besonders herausragender Weise den Kern des Problems der Debatte, die hier in den letzten zehn Jahren geführt wurde. Es gab wirklich Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, die hier mit Vorschlägen aufgetreten sind, einen Bundestagspräsidenten, der hier Vorschläge gemacht hat. Es gab breite Debatten. Alle haben debattiert; auch in der CDU wurde ernsthaft gerungen. Und am Ende kommt die CSU und sagt: Nee, mit uns nicht! – Dann sollen sich immer alle nach der CSU richten. Nein, es kann nicht so sein,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN)

dass Kleinstparteien hier im Deutschen Bundestag verhindern, dass wir zu durchgreifenden Reformen kommen.

Wir machen einen Vorschlag, den wir hier auf den Tisch des Hauses legen, der auch kleinen Parteien gerecht wird. Wir finden, auch für die CSU ist es richtig, dass es künftig die Grundmandatsklausel gibt. Deswegen halten wir daran fest, auch wenn das verfassungsrechtlich nicht zwingend ist. Das haben wir sehr deutlich ergründet: Das kann man auch abschaffen. Aber wir sagen: Wir bleiben dabei; denn wir wollen die Chancen für die Linkspartei und für die CSU, hier an der Mehrheitsbildung im Deutschen Bundestag teilzuhaben, nicht verschlechtern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Wir haben ja gute Gespräche geführt, auch jetzt in den letzten Tagen. Wir haben gesagt, was wir an Ihren Vorschlägen schwierig finden, und auch, was interessant ist. Wir haben auch deutlich gemacht, wo wir bereit sind, über Veränderungen zu sprechen.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Aha!)

Das machen wir ja auch jetzt in den nächsten Tagen und Wochen. Aber eins sage ich Ihnen: Dieser Gesetzgebungsprozess für die Verkleinerung des Bundestages, der wird ein Ergebnis haben, und zwar die wirksame Verkleinerung des Deutschen Bundestages. Wir machen das jetzt!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion Albrecht Glaser.

(Beifall bei der AfD)