02.02.2018

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben über die Frage des Wolfes in Deutschland, in Europa im Deutschen Bundestag eine lange Debatte geführt. Die Anfänge liegen Jahre zurück; manche Vorredner haben schon darauf hingewiesen.

Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Debatte zu führen:

Man kann sie so führen, wie die Kollegin Tackmann das eben gemacht hat, sich nämlich um das Problem kümmern und versuchen, tatsächlich Lösungen für die real existierenden Probleme der Weidetierhalter zu finden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Dies haben der Agrarausschuss des Deutschen Bundestages und der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages in der letzten Legislaturperiode auch getan, und zwar fraktionsübergreifend.

(Zuruf des Abg. Dr. Gero Clemens Hocker [FDP])

Die zweite Möglichkeit, diese Debatte zu führen, ist die der FDP hier. Schon im Titel ihres Antrags wird etwas angetriggert und mit dem Satz fortgesetzt – ich zitiere –: „Das Eindringen des Wolfes in den Lebensraum des Menschen führt zu Risiken“ für die Kleinsten in unserer Gesellschaft.

(Karlheinz Busen [FDP]: Richtig!)

Kinder können die Gefahren, zum Beispiel durch unvorhergesehene Angriffe oder übertragbare Krankheiten, noch nicht erkennen.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD – Karlheinz Busen [FDP]: So ist es! Genau so ist es! Es geht nicht nur um Schafe, es geht auch um Menschen!)

Ich sage Ihnen: Damit sind Sie nicht weit von „Großmutter, warum hast du so große Augen?“ entfernt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Sie können diese Debatte so führen und mit einem sehr dünnen Antrag unterlegen, in dem keine einzige Forderung enthalten ist, die den Herdenhaltern wirklich hilft – das fehlt in Ihrem Antrag komplett –,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

oder Sie können Folgendes tun – dazu lade ich Sie ein –: Sie kommen in die Debatte in den Ausschüssen, wie wir sie – ich hatte es gesagt – fraktionsübergreifend geführt haben, und suchen gemeinsam mit den anderen Fraktionen nach funktionierenden Lösungen. Dass wir einen Konflikt haben, nämlich einen Konflikt zwischen dem menschlichen Nutzungsinteresse und dem Schutzinteresse beim Wolf – der Wolf nimmt Lebensraum in Anspruch –, bestreitet hier niemand.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, bitte.

Oliver Grundmann (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Kollegin Lemke, ist Ihnen bekannt, dass in Niedersachsen Wölfe mittlerweile in Ortsteilen gesichtet wurden? Ich darf hier aus einem Infobrief aus dem „rundblick“, einem niedersächsischen Politikjournal, zitieren. Der Bürgermeister einer Gemeinde, übrigens SPD-Mitglied, sagt: Ich glaube, dass die Bürger verstanden haben, dass in unserer Gegend Wölfe leben und wir als Gemeinde in Sachen Wolf keine Handhabe haben; denn Wolfspolitik ist Landessache. – Letzteres ist nicht richtig. – Dann wird weiter zitiert: Dieser Wolf ist schon mehrfach an einem örtlichen Kindergarten vorbeigelaufen. Dieser Kindergarten wird mit einem Zaun derzeit gesichert von 1,20 Meter Höhe.

Ich will Ihnen nur die Frage stellen: Wissen Sie um diesen Zustand oder um diese Tatsache? Wenn nicht, dann würde ich Sie vor dem Hintergrund, dass dreijährige Kinder dort in der Sandkiste spielen, gern fragen, wie man den Wolf, der die Geschichte vom bösen Wolf vielleicht noch nicht zu Ende, sondern nur bis zum Rotkäppchen gehört hat, davon abhalten kann, bei dem Beuteschema etwas ganz Schlimmes zu tun. – Wenn das nämlich passiert, dann sind wir als Parlamentarier absolut blamiert. Das darf nicht passieren.

Deswegen meine Frage: Ist Ihnen diese Tatsache bekannt?

(Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der FDP)

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Natürlich ist mir diese Tatsache bekannt. Wenn Sie mich kennen, sollten Sie auch wissen, dass wir Grüne uns zum einen umfassend über solche Themen informieren

(Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Sie reden und reden und reden!)

und zum anderen natürlich auch über solche Vorfälle reden, dass wir mit Stefan Wenzel als Umweltminister in Niedersachsen Verantwortung dafür übernommen haben, wie mit Problemwölfen in Niedersachsen umgegangen wird,

(Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Wie denn?)

und dass wir in Brandenburg als Landtagsfraktion und in Sachsen-Anhalt mit einer Umwelt- und Landwirtschaftsministerin in der Ausübung von Exekutivgewalt permanent mit diesen Problemen befasst sind.

(Zuruf der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP])

Jetzt frage ich Sie: Was hilft diese Debatte, die Sie jetzt wieder hervorgeholt haben, und was hilft die Passage in Ihrem Antrag, mit der unberechtigte Ängste geschürt werden?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Karlheinz Busen [FDP]: Quatsch!)

Ich wiederhole: unberechtigte Ängste geschürt werden! Es gibt keine real existierende Gefahr für dreijährige Kinder im deutschen Wald. Vielmehr ist es die Aufgabe von Behörden, dort, wo Problemwölfe auftauchen, also wenn sie sich zum Beispiel Kindergärten nähern, ebenso wie bei Wildschweinhorden, die Freiflächen von Kindergärten umgegraben haben, die in Kleingärten auftauchen, Lösungen zu finden. Es geht aber nicht an, Angstdebatten im Deutschen Bundestag zu kreieren! Das ist der springende Punkt. Es geht nicht um Problemignoranz, sondern um Lösungen! Das ist der Unterschied.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Karlheinz Busen [FDP]: Wer schreit, hat sowieso kein Recht!)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Frau Kollegin, würden Sie noch eine Zwischenfrage von der FDP-Fraktion zulassen?

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich habe nicht gesehen, wer eine Frage stellen möchte.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Ein Kollege aus der FDP-Fraktion.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh, wir haben einen wunden Punkt getroffen! – Na klar, da rastet man aus!)

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wenn ich ausraste, sieht das anders aus, Herr Kollege.

Dr. Gero Clemens Hocker (FDP):

Vielen Dank, Frau Kollegin Lemke, dass ich diese Frage stellen darf. – Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Sie eben gesagt haben, dass mit unserem Antrag sinnlos Ängste geschürt würden, die eigentlich gar nicht berechtigt wären, möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, mit mir zusammen zur Kenntnis zu nehmen, dass in Niedersachsen massiv Existenzen von Weidetierhaltern bedroht sind. Sie haben nämlich jede Nacht Angst um ihre Tiere und wissen nicht, ob in der vergangenen Nacht acht oder zehn oder zwölf ihrer Schafe gerissen wurden.

Ist Ihnen außerdem bewusst, dass in besonderem Maße in Niedersachsen der Hochwasserschutz gefährdet ist, weil man Deich- und Hochwasserschutz nicht betreiben kann, ohne dass Weidetierhaltung auf den Deichen stattfindet? Wären Sie bereit, mit mir nach Niedersachsen zu fahren, um sich vor Ort ein Bild über die Situation zu machen?

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der AfD – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, Ihre Einschätzung dieser Gefahren und dieser Risiken teile ich mit Ihnen. Ihren gerade gemachten Ausführungen würde ich zustimmen. Sie haben mir aber entweder nicht zugehört oder sind meinem Redeverlauf einfach voraus. Ich habe eben darüber gesprochen, dass Sie bei Eltern und bei Kindern Ängste vor Gefahren schüren, die in dieser Form nicht vorhanden sind. Darum geht es mir.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Ich habe über Weidetierhaltung gesprochen!)

– Darum geht es mir.

Wissen Sie, ich kann Ihre Wolfstränen, die Sie an dieser Stelle vergießen, nur als Angstmache bezeichnen, solange Sie nicht alle anderen Risiken, beispielsweise durch Wildschweinherden – Menschen sind im Wald eher durch Wildschweine gefährdet als durch Wölfe –,

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Lenken Sie doch nicht ab!)

gleichermaßen thematisieren. Darum ging es mir, weil es mir um eine rationale Debatte geht.

Ich bin sehr gerne bereit, mit Ihnen nach Niedersachsen zu Weidetierhaltern zu fahren. Grüne in Ministerverantwortung haben das auch mehrfach gemacht. Wir Grüne müssen uns in Ministerverantwortung als Exekutivgewalt ganz konkret mit diesen Problemen auseinandersetzen. Kommen Sie mit mir nach Sachsen-Anhalt, begleiten Sie Frau Dalbert, die dortige grüne Landwirtschaftsministerin; ich begleite Sie gerne nach Niedersachsen. Das können wir wechselweise machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Frau Kollegin, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Kubicki. Sind Sie damit einverstanden?

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wirklich? Ihm kann ich es ja nicht abschlagen, aber dann ist gut.

Wolfgang Kubicki (FDP):

Frau Kollegin Lemke, Sie können mir alles abschlagen.  Meine Frage lautet: Ist Ihnen, wenn Sie schon darauf eingehen, dass man sich um die Wildschweinpopulation kümmern sollte, bekannt, dass Wildschweine im Gegensatz zu Wölfen bereits bejagt werden dürfen?

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der AfD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Wölfe fressen Wildschweine, Herr Kubicki! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Jurist muss man nicht alles wissen!)

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kubicki, darf ich Ihnen mit der Gegenfrage antworten, auch wenn Sie sie laut Geschäftsordnung nicht beantworten können, ob Ihnen bekannt ist, welche Probleme die Wildschweine trotz Bejagung Landwirten, Kleingärtnern, Menschen, die Nutzgärten und Kindergärten pflegen, permanent machen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das sind relevante finanzielle und ökonomische Schäden, die dort entstehen. Dort gibt es ebenfalls Angstdebatten. Man muss sich entscheiden, ob man diese schüren will oder ob man sich um Lösungen kümmern will. Darum ging es mir.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich habe wirklich Respekt vor den Menschen, die die Weidetierhaltung aufrechterhalten, die weiter Schafe und Ziegen halten, obwohl sie mit Wölfen konfrontiert sind. Pferde und Rinder sind nicht ganz so stark tangiert. Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die das trotz zerbröselnder Infrastruktur im öffentlichen Raum, trotz Ärztemangels und all der Probleme im ländlichen Raum, die wir hier schon diskutiert haben, machen, dabei mit dem Wolf zurechtkommen und öffentlich bekennen – Frau Tackmann hat das gerade zitiert –, dass sie das tun wollen, auch wenn es ihnen lieber wäre, der Wolf wäre nicht da. Davor habe ich wirklich Respekt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, dass diese Menschen all unsere Unterstützung verdienen. Wir haben nach den Anhörungen im Deutschen Bundestag Vorschläge vorgelegt. Der entscheidende Punkt ist, dass die Gemeinsame Agrarpolitik endlich umsteuern und eine finanzielle Existenzgrundlage für die Weidetierhalter schaffen muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Der Naturschutzbund Deutschland hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Situation für die Weidetierhalter existenzbedrohend ist und die Rückkehr des Wolfes in der Tat der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt, was dazu führt, dass Weidetierhalter die Weidetierhaltung aufgeben – mit allen ökonomischen, sozialen und ökologischen Konsequenzen.

Die spannende Frage ist: Versucht man, sich darum zu kümmern, dass das Fass endlich einmal leer wird, oder diskutiert man noch weitere vier Jahre über den Tropfen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich habe heute Morgen zur Kenntnis genommen, dass die Koalitionsfraktionen einige Punkte für den Koalitionsvertrag vorbereiten. Das, was der Presse zu entnehmen war, scheint alles sehr vernünftig zu sein, wenn Sie es tatsächlich schaffen, erstens die Finanzgrundlage für die Weidetierhaltung im bestehenden Rahmen der GAP schnell zu verändern – das können Sie; diese Möglichkeit haben Sie aber vier Jahre lang verstreichen lassen, und das ist bitter für die Weidetierhalter – und zweitens bei der anstehenden Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik endlich eine strukturelle finanzielle Verbesserung für die Weidetierhalter zu erreichen und tatsächlich eine Weidetierprämie einzuführen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als Koalition aus CDU/CSU und SPD haben Sie ein riesengroßes Betätigungsfeld: die Verbesserung von Herdenschutzmaßnahmen, ein scharfes Wolfsmonitoring, bundeseinheitliche Entschädigungs- und Versicherungsregelungen. Sie hätten dort längst tätig werden können. Vergießen Sie weniger Tränen! Handeln Sie, und sorgen Sie dafür, dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen für die Weidetierhaltung strukturell verändern!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen: Es ist natürlich auch richtig, auffällige Wölfe zu kontrollieren. Dafür brauchen wir das Monitoring und das Besendern von Wölfen, um auf Problemwölfe zu reagieren. Das darf aber nicht erst dann geschehen, wenn es zu spät ist, sondern es muss rechtzeitig geschehen; da stimme ich Ihnen zu. Aber das funktioniert nur, wenn Sie all diese Maßnahmen zusammen ergreifen und den Weidetierhaltern ihre Existenz über die Gemeinsame Agrarpolitik sichern. Wir führen diese Debatte hier sonst in einigen Jahren nicht mehr, weil es keine Weidetierhalter mehr gibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)