Rede von Marlene Schönberger Zu Protokoll: Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung

21.09.2023

Marlene Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Eines muss uns in dieser Debatte klar sein: Wenn Menschen nicht richtig lesen und schreiben können, dann ist das nicht das Ergebnis persönlichen Versagens. Es ist Ausdruck gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, gegen die wir kämpfen müssen.

Die meisten der 6 Millionen Betroffenen sind mit Deutsch als Muttersprache groß geworden. Es ist also offensichtlich, dass wir über Probleme in der deutschen Bildungslandschaft reden müssen.

Erstaunlich ist, dass drei Viertel der Menschen mit geringer Literalität über einen Schulabschluss verfügen. Das bedeutet: Bis zum Ende der Schullaufbahn hat niemand ernst genommen, dass die Betroffenen Schwierigkeiten mit längeren Sätzen hatten, dass sie beim Lesen ins Stocken geraten sind oder sich nicht gut merken konnten, was sie gerade gelesen hatten. Ein Schulsystem, in dem so etwas möglich ist, in dem Lehrkräfte kaum Zeit und Raum haben, wenn es darum geht, Kinder individuell zu fördern, das muss der Vergangenheit angehören!

Nur durch multiprofessionelle Teams, weniger Notendruck und längeres gemeinsames Lernen können wir dem begegnen, was Studien unserem Bildungssystem immer wieder aufs Neue bescheinigen: Wir haben ein massives Problem mit sozialer Ungleichheit.

Dass Kinder, die aus Nichtakademiker/-innenhaushalten kommen, nach wie vor Nachteile haben, auch beim Lesen- und Schreibenlernen, ist nicht nur eine schreiende Ungerechtigkeit – wir können uns das als Gesellschaft auch schlichtweg nicht leisten!

Die Zahlen zu ungerecht verteilten Bildungschancen liegen lange auf dem Tisch. Über Jahrzehnte wurden sie ignoriert oder kleingeredet. Als Ampelkoalition werden wir dieser Entwicklung unter anderem mit dem Startchancen-Programm endlich entgegensteuern!

Wer nicht lesen und schreiben kann, findet schwieriger einen guten Job, kann an vielen kulturellen Angeboten kaum teilnehmen und hat geringere Möglichkeiten, sich in politische Debatten einzubringen und gehört zu werden. Dass das auch ein Problem für unsere Demokratie ist, ist offensichtlich!

Es ist deshalb selbstverständlich nicht nur unsere Aufgabe, das Schulsystem zu modernisieren, sondern auch, das Leben Betroffener jetzt konkret und spürbar zu verbessern. Unser größter, gemeinsamer Gegner dabei heißt Scham. Die Scham, sich Hilfe zu suchen, wieder Vertrauen zu fassen in ein Bildungssystem, das schon einmal versagt hat.

Ich verstehe das – und möchte allen, die betroffen sind, trotzdem versichern, dass es keinen Grund gibt, sich für dieses gesamtgesellschaftliche Problem zu schämen! Es noch mal anzugehen, lesen und schreiben besser zu lernen, lohnt sich in jedem Alter.

Mit der Alpha-Dekade schaffen wir die Sichtbarkeit, die dieses Thema verdient. Alle Betroffenen und Angehörigen möchte ich ermutigen, das Angebot ALFA-Telefon zu nutzen: Ein Anruf oder eine Sprachnachricht an die 0800 53 33 44 55 kann der erste Schritt sein, um sich von Scham und Angst zu befreien.