Rede von Bernhard Herrmann Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit

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18.05.2022

Bernhard Herrmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie bitten, einmal kurz innezuhalten und an das Jahr 2020 zurückzudenken, genau genommen an den Herbst. Unter dem Motto „30 Jahre. 30 Tage“ feierten wir ein Fest zum Tag der Deutschen Einheit in Potsdam – ein Jubiläum, das daran erinnert hat, wie sich drei Jahrzehnte zuvor mutige Frauen und Männer in der DDR friedlich gegen die SED-Diktatur aufgelehnt haben. Wir haben uns getraut und haben Widerstand in einer Diktatur geleistet. Unser Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung war ungebrochen.

Als wir im Jahr 2020 unser Jubiläum feierten, blendeten wir viel aus, zum Beispiel den bereits seit Jahren andauernden Krieg in der Ostukraine. Wir ahnten nicht, welche Konsequenzen das haben würde – auch für uns.

Während sich für viele Menschen im westlichen Teil unseres Landes infolge der Wiedervereinigung kaum etwas veränderte, außer, überspitzt gesagt, ein paar Zahlen auf dem Lohnzettel – durch den Soli, den ja alle zahlten –, wurden im anderen Teil unseres Landes ganze Leben auf den Kopf gestellt. Während die einen wie gewohnt in ihren Sommerurlaub fuhren, wurden die anderen über Nacht arbeitslos. Während die einen in ihrem gewohnten Umfeld wohnen blieben, als wäre nichts gewesen, mussten die anderen ihre Familien verlassen und Arbeit in anderen Teilen der Republik suchen. Von einem Tag auf den anderen mussten sich Ostdeutsche in einem völlig fremden System zurechtfinden.

Sicherlich, all das geschah aufgrund des Wunsches nach Freiheit und Selbstbestimmung. Doch solche Umbrüche gehen auch an einem nach Freiheit strebenden Menschen nicht spurlos vorbei.

Mit diesen Schilderungen geht es mir ausdrücklich nicht darum, Wunden und Gräben zwischen Ost und West aufzureißen, sondern darum, gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Auch wenn die Transformation seit der Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Aufgabe ist: Die starken politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einschnitte erfuhren die Menschen in Ostdeutschland. Den Westdeutschen blieben sie überwiegend unbekannt.

Wenn wir von Transformation sprechen, sollten wir also immer beachten, dass dahinter ganz konkrete Biografien, ganz reale Menschen mit beachtlichen Lebensleistungen stehen.

(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Hagen Reinhold [FDP])

Das Zukunftszentrum kann mit einer wissenschaftlichen und kulturellen Aufarbeitung im Dialog dies aufzeigen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Während wir in den vergangenen Jahrzehnten den Blick stark nach innen richteten und eine eher innerdeutsche Perspektive auf den Transformationsprozesses einnahmen, klammerten viele die historische europäische Perspektive aus. Dabei gab es bereits in den 70er- und 80er-Jahren in Polen, in Ungarn, in der ČSSR und auch in der DDR zivilgesellschaftliche Bestrebungen nach demokratischer Selbstbestimmung und der Wahrung der Menschenrechte. Doch das – und nicht nur das – wissen hierzulande viele nicht.

Möglicherweise waren fehlendes Wissen oder die fehlende Sensibilität die Gründe auch dafür, dass die Maidan-Proteste in der Ukraine Ende 2013, Anfang 2014 bei vielen schnell in Vergessenheit gerieten. Unsere Erinnerungskultur bot für die demokratischen Bestrebungen in Ost- und Mitteleuropa, weder vor dem Zerfall der Sowjetunion noch danach, jenseits von Sonntagsreden nicht viel Platz – und das trotz durchaus ähnlicher Erfahrungen zumindest der Ostdeutschen.

Die Frage nach dem Warum müssen wir uns alle stellen. Und so mahnen uns die Ereignisse in der Ukraine und der seit dem 24. Februar andauernde Angriffskrieg Russlands, den Blick nicht nur auf uns selbst zu richten. Vielmehr sollten wir den Betrachtungsradius auf die Transformation in Europa erweitern. So kann ich persönlich die Unterzeichner/-innen des offenen Briefes, darunter über 95 Wissenschaftler/-innen, an der Stelle gut verstehen. Denn um die Transformation der 90er-Jahre zu verstehen und einzuordnen, muss deren Vorgeschichte seit den 1970er-Jahren ebenso einbezogen werden wie ihr gesamteuropäischer Rahmen.

Das Zukunftszentrum sollte als Brückenbauer zwischen Ost- und Westeuropa fungieren, um die Geschichte der postkommunistischen Regionen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa bekannter zu machen und den Einsatz der Zivilgesellschaft für Demokratie in diesen Ländern zu würdigen. Denn eine nationale Betrachtung der Geschichte greift zu kurz. Nur wenn wir auch an dieser Stelle gegenseitiges Verständnis aufbringen, kann Europa zusammenwachsen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Nach mehr als drei Jahrzehnten im vereinigten Deutschland ist es wichtig, dass unser Land weiterhin eng mit seinen Nachbarn zusammenarbeitet und wir gemeinsam die Demokratie in Deutschland und in ganz Europa stärken.

Nun geht es darum, den Standort in den Ländern Brandenburg, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt oder Thüringen in einem Standortwettbewerb auszuloten und die Gestaltung des Zentrums mit einem gesamteuropäischen Blick auf die Geschichte Deutschlands und Ost- und Mitteleuropas zügig und transparent voranzubringen. Eine breite gesellschaftliche Debatte zur Stärkung des Profils des Zukunftszentrums wäre sehr wünschenswert. Ich bin davon überzeugt, dass das Zukunftszentrum als Begegnungsort einen wichtigen Beitrag zum Diskurs zwischen Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft leisten wird und so für die Folgen der Transformationserfahrungen Deutschlands und seiner Nachbarn gegenseitiges Verständnis schaffen und den europäischen Zusammenhalt fördern wird.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Herr Kollege Herrmann. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Yvonne Magwas, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)