Rede von Annalena Baerbock Zur Situation in Deutschland

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07.09.2021

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Es ist ja verlockend, im Wahlkampf jetzt, drei Wochen vor der Bundestagswahl, zu versprechen: Keine Sorge, es wird alles so bleiben wie bisher. – Aber die Menschen in unserem Land wissen doch, dass wir nur dann das erhalten können, was uns lieb und teuer ist, wenn wir endlich Veränderung angehen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

wenn wir uns endlich den großen Herausforderungen unserer Zeit aktiv stellen und nicht weiter abwarten.

Diese Bundestagswahl – Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das sehr treffend gesagt – ist eine Richtungswahl. Diese Bundestagswahl ist eine Richtungswahl, weil sich entscheidet, ob die nächste Bundesregierung noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen kann oder nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen muss die Frage des Klimaschutzes im Mittelpunkt der nächsten Bundesregierung stehen.

(Zuruf von der AfD: Links abbiegen!)

Ich finde es nicht nur befremdlich, sondern ich finde es mit Blick auf all die Menschen in unserem Land, die gerade im Ahrtal und an anderen Orten alles tun, um Wiederaufbau zu leisten – Friseure, Handwerker, die unter der Woche arbeiten und am Wochenende kommen und freiwillig helfen, Häuser wiederaufzubauen –, auch wirklich unverantwortlich, dass wir hier in dieser Debatte zur Lage Deutschlands in dieser Situation zwar darüber sprechen, dass 30 Milliarden Euro für den Wiederaufbau bereitgestellt werden – das geschieht zu Recht, das unterstützen wir aus vollem Herzen –, dass wir aber nicht zur Kenntnis nehmen, dass diese 30 Milliarden Euro nichts an der Notwendigkeit ändern werden, in Zukunft bessere Vorsorge für den Fall, dass solche Extremwetterereignisse wiederkommen, zu treffen und Klimaschutzmaßnahmen zu betreiben. Wenn wir es ernst damit meinen, dass wir über diesen Moment nicht hinweggehen können, weil Menschen alles verloren haben, dann muss Klimaschutz im Mittelpunkt der nächsten Bundesregierung als Klimaregierung stehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn wir als Politik haben eine Verantwortung dafür, Menschen zu schützen.

Ich war wie Sie letzte Woche wieder vor Ort. Da stehen einem Bundespolizisten gegenüber und beschreiben noch mal die Situation, dass Helferinnen und Helfer eigentlich vor Ort waren, aber dann der Digitalfunk im Jahr 2021 nicht funktioniert hat. Wir haben erschreckende Berichte darüber gehört, dass Feuerwehrleute gesagt haben: Wir hätten drei Tage früher kommen können, wir hätten Hubschrauber schicken können, aber es hat nicht funktioniert, weil es beim Katastrophenschutz keine gemeinsame Zusammenarbeit mit der Bundesebene gibt. – Und Sie stehen und sitzen hier einige Wochen danach, und dieses ganze Thema „Wie wappnen wir uns zukünftig gegen diese Katastrophen?“ spielt hier absolut keine Rolle. Das schützt unsere Sicherheit in Zukunft nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen endlich eine Klimapolitik, die auf Vorsorge und Schutz aufgebaut ist. Das bedeutet auch: Wir brauchen ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz, das hier Verantwortung übernimmt, weil verantwortungsvolle Politik bedeutet, dass man aufgrund eines solchen Tages seine Politik ändert, wenn man sieht, dass seine Politik in die Sackgasse geführt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was denn sonst sollen wir tun, wenn wir erleben, dass Extremwetterereignisse zunehmen? Was denn sonst sollen wir tun, wenn wir erleben, dass halb Südeuropa abbrennt, dass jetzt in New York Wasserfluten in U‑Bahn-Schächte stürzen? Das ist doch der Punkt, wo man handeln muss und wo man nicht sagen darf: Wir machen einfach weiter wie bisher, und dann schauen wir mal. – Das ist das größte Risiko unserer Zeit und deswegen die zentrale Aufgabe für unsere Generation.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, wir sind in einem Wahlkampf, Herr Scholz und Herr Laschet. Aber Wahlkampf heißt doch nicht, über die Sorgen der Menschen einfach hinwegzugehen. Nicht nur von jungen Menschen bei Fridays for Future, die auf die Straße gehen, sondern auch von Psychologinnen und Psychologen, von Erzieherinnen und Erziehern hört man, dass Kinder sich Sorgen darüber machen: Wie werde ich eigentlich in Zukunft in diesem Land leben?

(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Was passiert eigentlich, wenn meine Kita gerade weggespült wurde? Diese Frage hören Erzieherinnen und Erzieher jetzt in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz. Sie können angesichts der Ängste dieser Kinder doch nicht einfach sagen: Versteht doch bitte, unsere Angst über eine Benzinpreisdebatte ist noch viel größer. – Nein, wir sind die Erwachsenen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind die Politikerinnen und Politiker, die sagen: Wir werden alles dafür tun, diese Ängste zu nehmen.

Denn diese Ängste sind real. Ein Kind, das 2018 geboren ist, erlebt nicht nur einmal in seinem Leben ein Jahrhunderthochwasser, sondern nach all den Prognosen, die wir derzeit haben, werden diese Hochwasser alle zehn Jahre kommen, diese Sturzfluten alle paar Jahre kommen.

(Zurufe von der AfD)

Deswegen ist es jetzt Zeit, das politisch zu verändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie von der FDP und von der CDU sagen dann: Das soll mal der Markt regeln. – Vielleicht haben Sie heute die Zeitung aufgeschlagen; in der „SZ“ wurde das noch mal berechnet: Wenn das allein der Markt regeln soll, dann kostet die Tonne CO2 2 800 Euro. Das ist zutiefst sozial ungerecht. Die Klimakrise wird durch keinen Markt geregelt, weil dem Markt Menschen herzlich egal sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Der Markt gibt uns Brot, der gibt uns zu essen und zu trinken! Das ist so Mottenkiste! – Christian Lindner [FDP]: Jetzt sind Sie bei der Linken gelandet!)

Es braucht eine Politik, die sagt: „Wir machen das jetzt“, anstatt 17 Jahre weiter in der Kohle drinzubleiben. 17 weitere Jahre!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da unterscheiden Sie von der CDU und der SPD sich an keiner Stelle.

Herr Scholz, Sie reden ja oft von Respekt. Aber wie respektvoll ist es, in die Lausitz zu fahren und zu sagen: „Ich werde weiter für den Kohleausstieg 2038 eintreten“, und ein paar Tage später dann bei den Umweltverbänden zu sagen: „2034 wäre eigentlich auch ganz in Ordnung“? Das ist für mich kein Respekt, sondern das zeugt davon, dass es keinen Kurs in der Klimapolitik gibt bei der SPD und bei Ihnen, wenn Sie dieses Land anführen wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

17 Jahre Weiter-so! Sie haben ein Klimaschutzgesetz beschlossen, wo richtigerweise drinsteht: Wenn ein Sektor das Ziel nicht erreicht, dann muss man schauen, wie das in einem anderen Sektor geregelt wird. – Wenn Sie 17 Jahre lang weiter CO2 aus der Kohleverstromung akzeptieren wollen, dann ist das so viel CO2, wie alle Gebäude zusammen erzeugen. Erklären Sie mal den Mieterinnen und Mietern, dass die jetzt die ganzen Klimaaufgaben übernehmen sollen, weil Sie nicht den Mut haben, den Kohlausstieg endlich auf 2030 vorzuziehen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Dramatische an der Situation und der Grund dafür, weswegen wir jetzt nicht mit einem Fingerschnipsen diese Klimaneutralität erreichen können, ist, dass Sie acht Jahre als Große Koalition dieses Land regiert haben in einer Zeit der Vollbeschäftigung, der guten und sprudelnden Steuereinnahmen, niedrigster Zinsen, aber einfach diese Chance nicht genutzt haben. Sie haben es auf gut Deutsch vermasselt, den Weg zur Klimaneutralität endlich zu beschreiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da ist es schön, dass Sie jetzt sagen: Wir reden, seitdem der Wahlkampf begonnen hat, auch mit Stahlkonzernen und Chemiekonzernen darüber, wie die das eigentlich sehen.

Wissen Sie, die deutsche Industrie ist schon seit ein paar Jahren deutlich weiter als diese Bundesregierung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der BDI hat auf seiner Jahrestagung deutlich gemacht: Die fehlende Planungssicherheit, weil es keine Richtungsentscheidung von der Großen Koalition gegeben hat, ist eins unserer größten Probleme für den Zukunftsstandort Deutschland. Ich zitiere hier mal Herrn Russwurm:

Es reicht nicht, Klimaneutralität per Gesetz vorzuschreiben. Die Politik muss auch dringend etwas dafür tun, dass das Ziel erreicht werden kann, und politische Entscheidungen treffen …

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau darum geht es jetzt: nicht Klimaschutz auf Plakate zu schreiben, sondern politische Entscheidungen zu treffen. Das heißt, 2 Prozent der Landesfläche für Windkraft zu nutzen. Das bedeutet, den Kohleausstieg vorzuziehen und ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zuzulassen.

(Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Und es bedeutet auch eine Solarpflicht für jedes neue Dach. Dass Sie selbst einen Antrag hierzu im Deutschen Bundestag nicht zugelassen haben bzw. über die Geschäftsordnung weggewischt haben, zeigt: Wenn die Große Koalition – angeführt von Ihnen, Herr Scholz, oder von Ihnen, Herr Laschet – demnächst hier weiterregieren würde, dann würde das mit den Klimaschutzzielen einfach nichts werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In einer Situation, in der wir finanziell eben nicht mehr so gut dastehen wie in den letzten Jahren, müssen wir jetzt klare Prioritäten setzen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben von den gleichwertigen Lebensverhältnissen gesprochen. Ja, das steht in unserem Grundgesetz; das ist eine der zentralen Aufgaben der Politik. Aber wenn wir mal genauer hinschauen, dann sehen wir, dass es in unserem Land ein riesengroßes Problem gibt, dass wir eben nicht nur in ländlichen Regionen kein Internet haben, sondern in ganz, ganz vielen Teilen unseres Landes.

Bei der Digitalisierung, dem Zukunftsthema nicht erst seit heute, sondern seit den letzten zehn Jahren, sind wir auf der Liste der 20 größten Industrienationen auf dem drittletzten Platz. Das ist die Regierungsbilanz von acht Jahren Großer Koalition bei der Digitalisierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Schienenbereich sind mittlerweile jede sechste Weiche, jede sechste Brücke und jedes sechste Gleis reparaturbedürftig, und jetzt sprechen Sie über Modernisierung. Die Modernisierung hätten Sie in den letzten acht Jahren angehen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie dieses Weiter-so nicht einfach hinnehmen wollen, dann müssen Sie sich jetzt klar entscheiden und priorisieren. Sorgen wir jetzt für gleichwertige Lebensverhältnisse! Investieren wir jetzt in unsere Infrastruktur! Oder wollen wir weiter hinnehmen, dass wir in unserem Land einen Investitionsstau von 140 Milliarden Euro haben?

(Zuruf des Abg. Christian Lindner [FDP])

Ich will das nicht! Ich möchte, dass man auch im ländlichen Raum mobil unterwegs ist. Ich möchte, dass wir an allen Orten in unserem Land vernünftige Schulen und schnelles Internet haben. Deswegen braucht die Schuldenbremse eine Erweiterung durch eine Investitionsregel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass Sie sich als Finanzminister auch weiterhin dagegenstellen, zeigt, dass der Respekt vor der Zukunft offensichtlich nicht so groß ist.

All diejenigen, die wirklich mal im Land unterwegs sind, erleben doch, was es bedeutet, wenn wir nicht in unsere Daseinsvorsorge investieren: Grundschülerinnen und Grundschüler, die in der dritten, vierten Klasse noch nicht schwimmen können, weil im ländlichen Raum die Schwimmbäder zumachen. Ebenso bei Kunst und Kultur: Alle haben gesagt: „Ja, irgendwie ist das systemrelevant“; aber genau da wird jetzt gespart werden, wenn wir die Investitionen eben nicht bereitstellen.

Dass Sie als Union in so einer Situation mit Ihren Steuervorschlägen vor allen Dingen die reichsten 10 Prozent entlasten wollen, anstatt in die Daseinsvorsorge und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu investieren, zeigt auch, für welche Richtung Sie sich in Zukunft entscheiden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da hilft es aber auch wenig, dass Ihnen, Herr Scholz, jetzt einfällt, dass wir eine Kindergrundsicherung brauchen. Wir haben das hier im Deutschen Bundestag in all den Jahren immer wieder diskutiert. Es war Ihr Ministerium, das im Familienausschuss immer wieder deutlich gesagt hat: Ach nee, Kindergelderhöhung, darüber reden wir mal; aber die Frage von Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze, das gehen wir nicht an.

Jede Mutter, die von den Hartz-IV-Kinderregelsätzen lebt, weiß, wie es ist, wenn man als Familie an so einem schönen Sommertag feststellen muss: Eis ist nicht drin, Schwimmbad ist nicht drin, die neuen Fußballschuhe sind auch nicht drin. – Denn das, was Ihre Kinder- und Familienpolitik bisher war, bedeutet für jedes fünfte Kind in diesem Land, dass die Mutter für ihr Kind 1,50 Euro zur Verfügung hat. Das reicht vorne und hinten nicht aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weil wir gerade bei Steuern und Gerechtigkeit sind: Wer ausgerechnet den Kampf gegen Steuerbetrug lieber weiter mit Fax und Brief führen will, den frage ich wirklich ernsthaft: Welcher Gesellschaft will er eigentlich dienen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Harald Weyel [AfD])

Dass Sie sich aus Angst vor einer dicken, fetten Schlagzeile in einer großen Zeitung genau in diesem Moment auch als Finanzminister wegducken, zeigt, dass Sie offensichtlich aus Warburg und Wirecard nicht wirklich etwas gelernt haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Den Amtseid, den einige von Ihnen schon ein paarmal hier geschworen haben, aber dessen Bedeutung Sie mittlerweile vielleicht vergessen haben, heißt: „meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen“ und „Schaden von ihm wenden“. Schaden von ihm zu wenden, bedeutet, vorzusorgen, eine vorausschauende Politik zu machen: beim Klimaschutz, bei der Frage der Gerechtigkeit und vor allen Dingen auch mit Blick auf den Kampf gegen die Pandemie.

Wir stehen gerade wieder vor einem Coronaherbst. Wir sehen, dass die Infiziertenzahlen massiv nach oben steigen wie auch die Hospitalisierungsquote. Wir haben Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten gesagt: Es wird nicht noch einmal passieren, dass wir hier klatschen und ihr Tag und Nacht durcharbeiten müsst. – Und was passiert jetzt? Es müsste jetzt von dieser Bundesregierung, von CDU und SPD, eine Entscheidung getroffen und gesagt werden: Wir rauschen nicht noch mal in so einen Coronaherbst rein.

Da bringt es nichts, zu sagen: „Ich verspreche: Die Schulen bleiben offen!“ und: „Ich verspreche: Es wird keinen weiteren Lockdown geben!“, sondern Ihre Aufgabe ist, jetzt dafür zu sorgen, dass das auch so kommt. Das heißt, in einem solchen Moment den Mut zu haben, zu sagen, dass es an Hotspots natürlich eine 2‑G-Regelung geben muss, damit die Schulen in Zukunft auch wirklich offen bleiben und die Kinder nicht in die achten Ferien rauschen, in denen es heißt: O Gott, jetzt haben wir wieder einfach nichts getan.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Schülerinnen und Schüler zweimal die Woche getestet werden, warum soll das nicht auch am Arbeitsplatz möglich sein? Diese Debatte hatten wir schon mal in diesem Hohen Haus. Nach anderthalb Jahren ist es an der Zeit, dass das endlich umgesetzt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann hatten Sie gesagt, Sie wollten jetzt in den drei Stunden auch über Afghanistan und eine verantwortungsvolle Außenpolitik diskutieren. Das war das Argument von CDU und SPD, warum sie den TOP „Afghanistan“ per Geschäftsordnung hier nicht zugelassen haben. Und dann ist es doch ein ganz schön starkes Stück, dass Sie sich hierhinstellen – auch Sie, Herr Scholz – und nichts zu diesem Thema sagen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir haben beim letzten Mal 90 Minuten debattiert!)

dass Sie nichts dazu sagen, was in den letzten Wochen in dieser Bundesregierung eigentlich schiefgelaufen ist.

Seit der letzten Afghanistan-Debatte sind ja noch neue Dinge an das Licht der Öffentlichkeit gekommen: dass Sie die Listen, von denen wir hier vor Wochen gesprochen haben, gar nicht weitergegeben haben, dass Menschen angerufen worden sind, vor dem Flughafen standen, aber dann nicht auf der Liste standen, um durchzukommen. Stattdessen wurden diese Listen mit Namen von Menschen, die in Lebensgefahr schweben, irgendwie an die Taliban gegeben. Dass Sie darüber hier und heute nicht reden wollen, das ist einfach unverantwortlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht dabei nicht nur um die zukünftige Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Es geht auch um die Frage: Welche Art von Politik wollen wir eigentlich machen? Eine Politik, bei der sich die Regierung in schwierigen Momenten einfach wegduckt, eine Politik, bei der sich eine Große Koalition hinstellt und sagt: „Mit dem Parlament möchten wir darüber jetzt nicht diskutieren“? Das ist nicht nur eine unverantwortliche Außenpolitik, sondern das zeigt auch, dass man keinen Respekt vor diesem Hohen Haus hat. Und dass die Verteidigungsministerin jetzt alleine eine Löschung von Unterlagen in ihrem Haus untersagt, Sie aber nicht bereit sind, einen entsprechenden Antrag hier im Deutschen Bundestag zu beschließen, das ist wirklich ein Unding.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, Sie können das per Geschäftsordnung hier von der Tagesordnung streichen, aber Sie können Ihre Verantwortung beim Afghanistan-Debakel nicht einfach wegwischen. In der nächsten Legislaturperiode wird es einen Untersuchungsausschuss dazu geben,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und zwar nicht nur, um die Fehler aufzuarbeiten, sondern auch, weil Deutschland endlich wieder eine aktive deutsche Außenpolitik braucht. Dieses Wegducken in der Afghanistan-Politik ist doch ein Spiegel dessen, was in den letzten acht Jahren in Europa passiert ist.

Deutschland ist das stärkste Land in der Europäischen Union. Deutschland ist das Land, das immer wieder sagt: Wir wollen Europa weiterbauen. – Auf Ihrem eigenen Koalitionsvertrag – das haben Sie in den letzten vier Jahren offensichtlich vergessen – stand als Titel: „Ein neuer Aufbruch für Europa“. Was ist dann passiert? Als Herr Macron gesagt hat, wir müssen jetzt den globalen Kampf gegen Steuerbetrug mithilfe einer Digitalsteuer angehen, haben Sie, Herr Scholz, gesagt: Ach nee, lassen wir das lieber mal sein. – Jetzt sind Sie mit reichlich Verspätung nachgetrödelt, und die Franzosen haben das erst einmal alleine gemacht.

(Zuruf des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])

Als die EU-Kommissionspräsidentin – sie ist von der Union – gesagt hat, Europa solle der erste klimaneutrale Kontinent werden, fiel Ihnen nichts Besseres ein, als in Brüssel dafür zu lobbyieren, dass dies mit Blick auf die Autoabgasgrenzwerte nicht so schnell gemacht wird. Jetzt macht Daimler das halt allein und stellt ab 2025 fast nur noch E-Autos her.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD)

Das Heftigste – ich komme zum Schluss, Herr Präsident – ist bei der europäischen Flüchtlingspolitik passiert.

(Zuruf von der AfD: Blödsinn! – Weitere Zurufe von der AfD)

Humanität und Ordnung sind die Pfeiler unserer gemeinsamen Werteunion. Was haben Sie vier Jahre lang gemacht? Sie haben sich hinter Viktor Orban versteckt und gesagt: Solange der sich nicht bewegt, bewegen wir uns auch nicht. – Europa wurde immer weitergebaut, indem einige sich zusammengetan haben: beim Euro, bei Schengen, bei der Osterweiterung. Genau dies brauchen wir jetzt wieder: ein Deutschland, das Europa politisch führt und sich nicht hinter Viktor Orban versteckt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Kollegin.

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Ja, ich bitte darum.

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Von Ihrem groß angekündigten Aufbruch für Europa ist nichts übrig geblieben außer einer Reise meiner beiden Mitbewerber diese Woche nach Paris, um das Letzte noch zu retten.

(Zuruf des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])

So gestalten wir keinen Aufbruch in Europa, und so wird es auch mit dem Klimaschutz nichts. Wir brauchen eine Regierung, die Verantwortung übernimmt, die Mut für Neues hat, die klimagerechten Wohlstand in Deutschland und eine gemeinsame Zukunft in der Europäischen Union anstrebt.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Jetzt erteile ich das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet.

(Beifall bei der CDU/CSU)