Hybrides Fachgespräch zur Kindschaftsreform Kindeswohl und Gewaltschutz
- Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass häusliche Gewalt in Umgangsverfahren zwingend zu berücksichtigen ist.
- Kindeswohl und Gewaltschutz für Kinder und den gewaltbetroffenen Elternteil müssen in sorge- und umgangsrechtlichen Verfahren gewährleistet werden. Im Zuge der Kindschaftsrechtsreform werden wir dieses Vorhaben 2024 umsetzen.
- In einem Fachgespräch hat die grüne Bundestagsfraktion mit Expert*innen aus der Praxis und Verbänden aus unterschiedlichen Perspektiven über Defizite diskutiert und Handlungsbedarfe identifiziert.
Im Dezember 2023 lud die grüne Bundestagsfraktion zu einem Fachgespräch ein, um mit Expert*innen aus unterschiedlichen Perspektiven über Handlungsbedarfe zu diskutieren. Einführend wies die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Maria Klein-Schmeink auf die gesundheitspolitische Dimension des Themas hin. Die frauen- und familienpolitische Sprecherin Ulle Schauws betonte die Perspektive gewaltbetroffener Frauen, die oft auch über eine Trennung hinaus Gewalt erleiden.
In Vorbereitung auf das parlamentarische Verfahren zur Kindschaftsrechtsreform traten die familienpolitische Berichterstatterin Nina Stahr sowie der rechtspolitischer Sprecher Helge Limburg mit den Expert*innen in den Austausch.
Eingeladen waren zentrale Akteur*innen, die sich für das Kindeswohl und den Gewaltschutz in und außerhalb familiengerichtlicher Verfahren einsetzen und diese mitgestalten: Vertreter*innen aus der Richter- und Anwaltschaft, von Verbänden sowie von Beratungs- und Unterstützungssystemen wie insbesondere Frauenhäusern.
Gemeinsam mit den Expert*innen gingen Nina Stahr und Helge Limburg zentralen Problemen auf den Grund: Im Fokus stand die Frage, wie sich der Umgang in Fällen von häuslicher Gewalt gestalten lässt. Dabei wurde diskutiert, wie gleichzeitig das Kindeswohl im Einzelfall und der Schutz des gewaltbetroffenen Elternteils sichergestellt werden kann. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Perspektiven zeichnete sich ein differenziertes Bild ab.
Zentrale Handlungsaufträge für den Gesetzgeber und auch für die Praxis wurden deutlich: Kinderrechte und der Schutz des gewaltbetroffenen Elternteils müssen im Zuge einer weiteren Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention sowie der Istanbul-Konvention weiter gestärkt werden.
Einig waren sich alle Expert*innen dahingehend, wie wichtig es ist, die beteiligten Akteur*innen für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren und zu qualifizieren. Beispielsweise mit einem Fortbildungsanspruch für Familienrichter*innen, wie er im Koalitionsvertrag angelegt ist. Auch der Anhörung der Kinder und Jugendlichen in den Verfahren wurde von allen eine Schlüsselfunktion zugesprochen – mit Blick auf ihren Schutz und ihre Selbstwirksamkeit.
Asha Hedayati, Anwältin und Dozentin für Familienrecht und Kinder- und Jugendhilferecht, berichtete aus ihrer Beratungspraxis: Ausgangspunkt seien häufig Umgangsverfahren, die von den Kindsvätern initiiert werden. Das folgende Verfahren sei dann oft von Beweisschwierigkeiten und Gutachten geprägt, die den Bedürfnissen der von Gewalt betroffenen Kinder und Mütter nicht gerecht würden. Sie erlebe regelmäßig Partnerschaftsgewalt als einen blinden Fleck in familiengerichtlichen Verfahren.
Britta Schlichtling von der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser, sprach sich klar für eine Reform des Familienrechts aus. Das Leitbild der kooperativen Elternschaft sei aus ihrer Sicht nicht hilfreich. Das Miterleben von häuslicher Gewalt müsse als Kindeswohlgefährdung definiert werden.
Katharina Lohse, Leiterin des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht und Mitautorin der Studie für das BMFSFJ „Kindschaftssachen und häusliche Gewalt“, regte an, den Gewaltbegriff der Istanbul-Konvention mit dem Kindeswohlbegriff in Einklang bringen. Sie wies auf die besondere der Rolle der Jugendämter im Unterstützungssystem hin, denn häusliche Gewalt sei sowohl ein Indikator für eine Kindeswohlgefährdung als auch generell für Hilfe- und Unterstützungsbedarf.
Aus dem Blickwinkel der UN-Kinderrechtskonvention hob Claudia Kittel, Leiterin der Monitoringstelle der UN-Kinderrechtskonvention vom Deutschen Institut für Menschenrechte, die Bedeutung des Kindeswillens hervor. Sie stellte die Empfehlung des Deutschen Instituts für Menschenrechte vor, die Regelvermutung für eine Kindeswohldienlichkeit des Umgangs mit beiden Elternteilen anzupassen. Die Regelvermutung solle für Fälle häuslicher Gewalt nicht gelten und um eine widerlegbare Vermutung ergänzt werden; die Kindeswohldienlichkeit müsse in diesen Fallkonstellationen trotz häuslicher Gewalt positiv festgestellt werden. Dabei erläuterte sie die Bedeutung des Umgangs auch für die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen.
Lucy Chebout, Fachanwältin für Familienrecht und Vizepräsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, rückte die Istanbul-Konvention in das Zentrum ihrer Überlegungen. Sie mahnte an, Kriterien wie beschleunigte Verfahren und Amtsermittlung für die Verfahren zu definieren, um den Schutz des gewaltbetroffenen Elternteils zu verwirklichen.
Jennifer Schiefer, Familienrichterin und Mitglied der Neuen Richtervereinigung, forderte eine differenzierte Einzelfallbetrachtung in der Praxis. Die Interessen des Opfers häuslicher Gewalt und des Kindes könnten auseinanderfallen. Sie plädierte für kurzzeitige und längerfristige Lösungen - und wies auf den verfassungsrechtlichen Rahmen von längerfristigen Umgangsausschlüssen hin.
Eva Becker, Vorsitzende des Ausschusses Familienrecht im Deutschen Anwaltverein, sprach sich für eine Stärkung der Verfahrensbeistände aus. Sie bewertete mögliche Neuregelungen kritisch, die den Umgang bei häuslicher Gewalt ausschließen. Ihre Überlegungen konzentrierten sich auf die Sachverhaltsaufklärung und die Herausforderung für Anwält*innen und Richter*innen, den Sachverständigen die richtigen Fragen stellen.
Dr. Romy Ahner vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., verwies auf die Empfehlungen des Vereins. Sie erläuterte, dass es in Fällen von häuslicher Gewalt hilfreich sei, das Familienverfahrensrecht zu ändern und eine Ausnahme vom Gebot der Hinwirkung auf ein Einvernehmen der Beteiligten für diese Fälle zu schaffen. Um unerwünschte Rückschlüsse auf den Aufenthalt des gewaltbetroffenen Elternteils und des Kindes zu vermeiden, solle auch ein Wahlgerichtsstand geschaffen werden.
Einschätzungen von Nina Stahr und Helge Limburg
Nina Stahr sagte: "Wenn wir über die Frage diskutieren, wie häusliche Gewalt in familiengerichtlichen Verfahren berücksichtigt werden soll, ist es zentral, die kinderrechtliche Perspektive und den Gewaltschutz der Eltern zusammen zu denken und das haben wir in unserem öffentlichen Fachgespräch mit einem breiten Fachpublikum getan.
Für mich ist es ein zentrales Anliegen, die kinderrechtliche Perspektive in familiengerichtlichen Verfahren zu stärken. Kinder müssen in jedem Fall gehört und vor allem auch ernst genommen werden. Dafür müssen die Kinderrechte endlich ins Grundgesetz.
Das Fachgespräch hat gezeigt: Der rechtliche Rahmen muss reformiert, die verschiedenen Professionen von der Familienrichter*innen über Verfahrensbeistände bis zu Gutachter*innen besser geschult werden, der Kindeswille zwingend berücksichtigt und der Gewaltschutz gewährleistet sein."
Helge Limburg ergänzte: "Im Fachgespräch ist einmal mehr klar geworden: Wenn ein Elternteil gegen den anderen gewalttätig wird, hat das immer auch Auswirkungen auf die Kinder. Die Expertinnen haben uns sehr darin bestärkt, dass der Gesetzgeber hier nachbessern muss, so wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben."
Bilder der Konferenz
Uhrzeit | Programm |
9.00 | Begrüßung Nina Stahr MdB Helge Limburg MdB Maria Klein-Schmeink MdB Ulle Schauws MdB |
9.10 | Familienrechtlicher Input Asha Hedayati |
9.15 | Panel: Kindeswohl und Gewaltschutz in familiengerichtlichen Verfahren Asha Hedayati Katharina Lohse Claudia Kittel Lucy Chebout Jennifer Schiefer Moderation: Nina Stahr MdB und Helge Limburg MdB |
10.15 | Schlaglichter Eva Becker Dr. Romy Ahner Britta Schlichtling (digital) |
10.30 | Diskussionsrunde |
11.15 | Resümee Nina Stahr MdB Helge Limburg MdB |
11.30 | Get-Together vor Ort |
Anreise
Zum Paul-Löbe-Haus gelangen Sie mit der U-Bahn bis Haltestelle „Bundestag" oder der U- oder S-Bahn bis Haltestelle „Hauptbahnhof“ oder „Brandenburger Tor“ oder mit dem Bus 100 bis zur Haltestelle „Reichstag/Bundestag“. Über den Eingang Süd, gelangen Sie zum Veranstaltungsort. Um in das Paul-Löbe-Haus zu gelangen, benötigen Sie ein amtliches Personaldokument. Eine namentliche Anmeldung mit Angabe des Geburtsdatums ist im Vorfeld erforderlich.