Rede von Max Lucks Gedenken an den Völkermord an den Êzîd*innen 2014

Max Lucks MdB
19.01.2023

Max Lucks (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste auf unserer Tribüne! Seine Exzellenz Mir Tahsin! Meyan Xatun! 2014 – die Welt blickt auf Shingal, und der „Islamische Staat“ beginnt seinen grausamen Plan, die jesidische Gemeinschaft in der Region nachhaltig auszulöschen. Jungen und Männer werden ermordet, Frauen und Mädchen werden vergewaltigt. Mehr als 5 000 Menschen wurden getötet, 7 000 verschleppt, Hunderttausende aus ihrer Heimat vertrieben. Das sind nicht bloß Zahlen; das waren Mütter, Väter, Onkel, Tanten, Söhne, Töchter, beste Freundinnen und Nachbarn. Der „Islamische Staat“ hat alles versucht, um die Macht über eure Geschichten, eure Identitäten und eure Körper zu bekommen. Dieser Schmerz wird nie gestillt.

Einen Schmerz trage ich heute als deutscher Politiker in mir: Wir stehen in der Schuld der Jesidinnen und Jesiden, weil wir ehrlich einräumen müssen, dass wir nicht gehandelt haben, als es auf unsere Hilfe am meisten ankam. Als Jesidinnen und Jesiden in der Nacht auf den 3. August 2014 ins Sindschar-Gebirge flohen, wurden sie von den Mördertruppen des IS eingekesselt. Unser Schweigen kostete Menschenleben. Die internationale Gemeinschaft handelte nicht. Es waren jesidische Milizen im Verbund mit der syrisch-kurdischen YPG, die einen sicheren Korridor freikämpften.

Mit diesem Schmerz haben die Überlebenden dieses Genozids weitergekämpft. Viele der Überlebenden des Genozids begrüßen wir heute hier im Deutschen Bundestag. Liebe Necla Mato, liebe Farida Khalaf, lieber Farhad Alsilo, ihr habt in einer Situation gekämpft, als Träume, eigene Lebensziele und der Glaube an die eigene Menschheit tot waren. Den IS habt ihr für euch bekämpft, und ihr habt diesen Kampf gewonnen. Doch besiegt habt ihr den IS für die gesamte Menschheit, und dafür verneigt sich dieses Parlament heute vor euch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD und der LINKEN)

Die heutige Anerkennung des Völkermordes an den Jesidinnen und Jesiden ist ein Akt für die Geschichtsbücher; denn es ist historisch in der Art und Weise, wie sich Deutschland des Schutzes jesidischen Lebens annimmt. Diese Anerkennung ist aber viel mehr als das; sie ist auch ein Akt des Handelns. Wir handeln, damit jesidisches Leben in Mesopotamien, ausgerechnet in der Wiege des Jesidentums, ausgerechnet in der Wiege der Menschheit, lebt.

Wir blicken auf die Region heute. Bei meinem Besuch in der Region Kurdistan-Irak im Sommer 2022 traf ich Überlebende des Genozids in Flüchtlingscamps unter widrigen Bedingungen. Sie erzählten mir, dass sie zurück in ihre Heimat wollen, aber nicht zurück in ihre Heimat können, weil es dort nicht sicher ist. Die Sindschar-Region ist heute zerrieben – zwischen Militäroperationen der Türkei und des Irans, zwischen Autonomieregierung im Norden und Zentralregierung in Bagdad. Wir erheben mit diesem Antrag die Befriedung der Sindschar-Region zu einer Priorität deutscher Irakpolitik, und das ist das Mindeste, was wir tun müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Doch bis es zu dieser Befriedung im Sindschar kommt, dürfen wir die Menschen in den Camps nicht alleine lassen. Sie erzählten mir davon, dass ihr einziger Wunsch am Morgen eines Tages ist, den Tag in Sicherheit leben zu können. Ich finde, diese Menschen haben verdient, dass sie endlich wieder Wünsche für ein Morgen und für ihre eigene Zukunft haben können. Und deshalb ist es jetzt so wichtig, dass unsere humanitäre Hilfe für die Überlebenden des Genozids ausgebaut wird, gerade jetzt, wo das Cluster der Vereinten Nationen ausläuft.

Den Völkermord aufzuarbeiten, heißt auch, unsere Rolle, die der Bundesrepublik Deutschland, mit zu beleuchten. Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft reisten in das Kalifat des IS, wurden zu Völkermörderinnen oder Völkermördern – so wie Jalda A. aus Bremen, die bei der Versklavung und der Vergewaltigung einer Jesidin im Irak mitwirkte. Jalda A. wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht im letzten Jahr verurteilt. Und Jalda A. wird nicht die Letzte sein, die in Deutschland nach dem Weltrechtsprinzip verurteilt worden sein wird. Den Täterinnen und Tätern des „Islamischen Staates“ sei gesagt: Wir werden diese Täterinnen und Täter mit der ganzen Härte des Rechtsstaates zur Rechenschaft ziehen, und wir werden uns schützend vor die Jesidinnen und Jesiden stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, all das, was den Jesiden und Jesidinnen auf der Seele brennt, das sagen sie der Sonne – ob jung, ob alt, ob Mir oder Frau. Aus diesen Gebeten sind die schönsten Gebete, Gedichte und Wünsche für die Menschheit entstanden. Und diese werden in ihrer Schönheit, in ihrer Reinheit und in ihrer Selbstlosigkeit niemals verstummen.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Michael Brand hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Christoph Hoffmann [FDP])